Nelia atmete tief durch und schloss mit ihrem Schlüssel die Haustür auf. Eigentlich war es nicht geplant gewesen, dass Maximilian und sie sich heute sahen, aber sie wusste nicht, wo sie sonst hinkonnte. Ihre Eltern lebten an der Ostsee und die gegenseitigen Besuche wurden akribisch geplant. Gerd und Heike Winter leiteten eine Bank im schönen Rostock. Ihre Zeit hatten sie genauso korrekt angelegt wie ihren Alterssparplan. Da passte ein unangekündigter Besuch ihrer leider viel zu kreativen und freiheitsliebenden Tochter nicht ins Bild.
Im dritten Stock angekommen, öffnete Nelia die Wohnungstür und betrat die große Dreiraumwohnung ihres Freundes. Sie wusste, dass Maximilian heute einen langen Arbeitstag vor sich hatte und wunderte sich nicht über die Stille, die sie vorfand. Im Grunde war sie sogar dankbar, dass sie einen Moment für sich hatte. Was in den letzten Stunden alles auf sie eingestürmt war, war schlicht und ergreifend zu viel gewesen.
Nelia schlüpfte aus ihren Pumps und stellte ihre Tasche neben sich auf den Fußboden. Sie ging in die Küche, wo sie sich zunächst ein Glas Wasser eingoss und zwei von den pflanzlichen Beruhigungstabletten schluckte, die Maximilian regelmäßig nahm, wenn er mal wieder mit Einschlafproblemen zu kämpfen hatte. Anschließend zog sie sich ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich auf die Couch sinken ließ und ins Leere starrte.
Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich förmlich und hinterließen ein heilloses Durcheinander. Nichts schien mehr an seinem Platz zu sein, alles war chaotisch und komplett zerstört worden. Ihren Job zu verlieren war die eine Sache, dass ihre Wohnung sich praktisch in Luft aufgelöst hatte, eine ganz andere.
Nelia wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, während sie reglos und gedankenverloren auf der Couch gesessen und auf Maximilian gewartet hatte. Als das laute Poltern an der Tür sie allerdings aufschreckte, registrierte sie, dass das Licht draußen schwächer wurde. Sie stand auf, trank den letzten Schluck aus ihrem Wasserglas und ging in Richtung Flur, wo die Geräusche herkamen. Jemand schloss die Tür auf – Max, das dachte Nelia zumindest. Aber sie täuschte sich. Anstelle von ihrem Freund erschienen ein zierlicher Frauenkörper und ihr sehr vertraute Hände, die wild in den blonden Haaren der fremden Frau wühlten. Maximilian schob sie gegen die Flurwand und schloss die Wohnungstür mit einem lässigen Fußtritt.
Erschöpft lehnte Nelia sich an den Rahmen der Wohnzimmertür und kämpfte gegen das erneute Brennen in ihren Augen. Als sie dachte, dieser Tag könnte nicht schlimmer werden, hatte sie sich offensichtlich getäuscht.
»Max«, hauchte sie leise und schien von ihrem Freund und seiner Eroberung überhaupt nicht wahrgenommen zu werden. »Maximilian!«
Erschrocken fuhren die beiden auseinander und starrten Nelia an.
»Nelia, was machst du hier?«, wollte Max wissen und strich sich verzweifelt durch die dunklen Haare. Er ging auf seine Freundin zu und wollte sie in eine Umarmung ziehen.
»Ach nichts, Stella hat mich nur gefeuert und falls du irgendetwas von einer Explosion in einem Wohnhaus gehört hast: Meine Wohnung war dort, wo jetzt das große Loch ist. Und wo wir gerade dabei sind, schönes Leben noch, Arschloch.«
Nelia schob sich an Maximilian vorbei, schlüpfte in ihre Schuhe und schnappte ihre Tasche, bevor sie dem blonden Püppchen neben sich einen bitterbösen Blick zuwarf. Als sie am Garderobenspiegel vorbeiging und eine Sekunde ihr Abbild betrachtete, erschrak sie. Sie sah furchtbar aus. Ihre Augen glänzten, sie war blass und ihre brünetten Locken sahen aus, als hätte ein Vogel vor, darin zu nisten.
Wenigstens war der Bad Hair Day inklusive, dachte sie verbittert und verschwand schleunigst aus der Wohnung. Auch wenn Nelia inständig hoffte, Maximilian würde sie einfach so gehen lassen, tat er genau das nicht.
»Nelia, Liebling, warte.« Er lief ihr nach und packte sie auf den letzten Stufen am Handgelenk.
»Lass mich verdammt noch mal los!«, fauchte sie und schleuderte seine Hand weg. »Ich will keine Erklärungen hören, ich will nicht wissen, ob es so ist, wie es aussieht ... ich will meine Ruhe haben, verstehst du das?«
»Wenn du doch nur geschrieben hättest, was los ist«, flüsterte Max und fachte die Wut seiner Freundin noch mehr an.
»Was dann? Dann hättest du die Barbie nicht mit nach Hause genommen? Hättest du es ihr dann an einem anderen Tag besorgt? Lass es sein, Max, ich will gar nicht wissen, wie lange du mich schon verarschst.«
»Nelia, ich liebe dich. Wo willst du denn jetzt hin?«
»Weißt du, ich habe meine Kolumne, meinen Job und meine Wohnung auch geliebt. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, da muss man sich trennen und einen neuen Weg einschlagen«, erwiderte sie eiskalt und versuchte, ihre Gleichgültigkeit zu bewahren. Sobald sie allein war, würden die Tränen nur so aus ihr herausbrechen und das letzte Bisschen, was von ihrem Leben übrig war, zunichtemachen.
»Nelia, so leicht ist das aber nicht.«
»Doch, ist es!«
Nelia nahm die letzten Treppenstufen und verschwand aus dem Wohnhaus.
Dieser Tag hatte sich zu einer ausgewachsenen Katastrophe entwickelt. Nelia hatte zwar siebentausend Euro mehr auf dem Konto, dafür aber keinen Job, keine Wohnung und keinen Freund. Das waren die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft.
Auf und davon
Ziellos irrte Nelia durch die Hauptstadt und überlegte, wie es für sie weitergehen sollte. Zu ihrer Überraschung hielt sie sich recht wacker und erlaubte den Tränen nicht, an die Oberfläche zu treten. Nelia war gefasst, vielleicht weil sie wusste, dass sie sich einen Nervenzusammenbruch in dieser Sekunde nicht leisten konnte. Sie brauchte in erster Linie einen Schlafplatz und musste pragmatisch denken. Zum Weinen hatte sie später immer noch Zeit. Nelia überlegte, ob sie Jennifer anrufen und sie um Hilfe bitten sollte. Sie war ihr einziger Anlaufpunkt in der Stadt.
Während des Studiums hatte Nelia zwar Freundschaften geschlossen, doch diese waren zerbrochen, sobald jeder seinem eigenen Leben nachging und das Studium nicht mehr als gemeinsame Verbindung fungierte. Bislang hatte es sie nicht gestört, dass der Kontakt von Monat zu Monat weniger wurde, doch nun realisierte sie, dass sie niemanden mehr hatte.
Nelia blieb stehen und sah sich um. Sie war einfach nur gelaufen und hatte kaum mitbekommen, wohin sie der Weg geführt hatte. Irritiert blickte sie auf den Busbahnhof, der von allen nur ZOB genannt wurde, und fragte sich, ob es ein Zeichen war, dass sie ausgerechnet an diesem Ort gelandet war. Von hier aus fuhren Fernbusse in alle Richtungen der Welt.
Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie nicht aus Berlin verschwinden sollte, wurde aber vom Knurren ihres Magens abgehalten. Nelia hatte den gesamten Tag über nichts gegessen und war zum ersten Mal froh, ein Fast Food Restaurant in der Nähe zu haben.
Sie überquerte die Straße und betrat den Laden, der gnadenlos überfüllt war. Die Schlange an der Kasse war endlos lang und die Sitzplätze waren fast alle von jungen Leuten belegt, die schnell einen Happen essen wollte, bevor sie die Stadt verließen.
Weil Nelia nichts anderes übrig blieb, stellte sie sich an und suchte in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie. Eigentlich hasste sie diese nach Pappe schmeckenden, lieblos zusammengeworfenen Burger, doch das war im Moment besser als nichts.
Als sie endlich an der Reihe war, bestellte sie sich ein Burgermenü, bezahlte und hoffte, dass sie einen Platz finden würde. Sie sah sich um und bemerkte, dass eine Gruppe Jugendlicher von ihrem Tisch aufstand. Nelia steuerte direkt auf den freien Platz zu und rutschte in die hinterste Ecke.
Freudlos aß sie den Burger und die labbrigen Pommes und trank ihre Cola light. Anschließend suchte sie in der Tasche nach ihrem Handy und blickte darauf. Niemand hatte sie angerufen