Nelia merkte viel zu spät, wie schnippisch ihre Antwort klang, und es tat ihr sofort leid.
»Entschuldige, du wolltest mir nur einen Gefallen tun.«
»Schon in Ordnung.«
Nelia seufzte und stieß sich von der Wand ab.
»Ich bin es nicht gewohnt, dass man mir so selbstlos hilft.«
»Vielleicht helfe ich dir ja nicht ganz uneigennützig.«
René grinste und Nelia verdrehte die Augen. Sie konnte sich schon denken, worauf ihre Busbekanntschaft anspielte.
»Wie dem auch sei. Ich würde jetzt trotzdem gern in die Boutique deiner Mutter gehen und mir noch ein paar Sachen kaufen. Mit einem Outfit komme ich schließlich nicht sehr weit.«
»Schade, dass ich einen Termin habe.«
»Sehr schade«, scherzte Nelia ironisch und zwinkerte.
»Aber Paris ist nicht so groß, wir werden uns wiedersehen.«
Ein freches Lächeln zog über Renés Gesichtszüge und er betrachtete Nelia genau. Sie ließ sich nichts anmerken und hob stattdessen leicht die Schultern.
»Möglicherweise«, schmunzelte sie, stellte sich auf Zehenspitzen und küsste René auf die Wange. »A bientôt. Bis bald.«
Nelia überquerte die Straße und betrat die Boutique von Renés Mutter. Sie sah sich um und mochte den schlichten, aber stilvoll eingerichteten Laden sofort. Kleiderstange für Kleiderstange nahm sie unter die Lupe und wurde schnell fündig. Sie warf sich ein weißes Spitzentop und schwarze Hotpants über den Arm, einen dünnen blau-weiß gestreiften Pullover, ein dunkelblau gemustertes Kleid im Boho-Stil und einen schwarzen, kurzen Faltenrock.
»Mein Sohn hat mir tatsächlich die richtige Größe gesagt. Ich hätte ihn doch überreden sollen, für mich zu arbeiten.«
Nelia schenkte der blonden Frau, die Renés Mutter sein musste, ein Lächeln.
»Die Sachen sind wunderschön. Vielen Dank dafür. Sagen Sie mir bitte, was Sie für alles bekommen?«
»Nichts. René würde mir die Hölle heißmachen.«
Claudine Garette hob entschuldigend die Schultern. Auf keinen Fall würde sie der jungen Frau, die sie auf Anfang Zwanzig schätzte, Geld für die Sachen abnehmen. Ihr Sohn hatte grob angedeutet, was ihr passiert war – die Strapazen hatte sie sich nicht einmal mit dem Make-up aus dem Gesicht schminken können. Claudine gehörte ohnehin zu den Menschen, die anderen lieber halfen, als ihre Notsituationen auszunutzen.
»Aber diese Sachen werde ich kaufen und selbst bezahlen – also wenn sie mir passen. Keine Widerrede!«, sagte Nelia energisch und entlockte Claudine ein herzliches Lachen.
Langsam verstand sie den schwärmerischen Ausdruck, den die Augen ihres Sohnes angenommen hatten, als er ihr von der Begegnung mit der hübschen Brünetten erzählt hatte. Sie war für ihr Alter sehr schlagfertig und machte einen viel erwachseneren Eindruck, aber trotzdem sah die besorgte Mutter ein Problem dabei. Ihr Sohn hatte so viel durchmachen müssen, er hatte Verantwortung in seinem Leben zu tragen. Sich jetzt auf eine lockere Liebelei einzulassen, konnte fatale Folgen für ihn haben.
»Die Umkleiden sind neben der Kasse.«
»Merci«, erwiderte Nelia lächelnd.
Eine halbe Stunde später hatte Nelia nicht nur die ausgesuchten Sachen, sondern auch zwei Paar neue Schuhe und ein paar Accessoires gekauft. Sie war ein paar hundert Euro leichter, doch das fühlte sich besser an, als ständig auf Almosen angewiesen zu sein.
Gemütlich lief Nelia zurück zum Vive la France, wo sie einen Kaffee trinken und sich anschließend etwas ausruhen wollte.
Die Nacht im Bus steckte ihr in den Knochen und bislang hielt sie nur die Aufregung über diese neue Umgebung aufrecht. Langsam merkte Nelia, wie müde sie war und wie dringend sie ein paar Stunden Schlaf in einem bequemen Bett brauchte.
Als sie Florences kleine Bäckerei erreichte, war diese wieder gnadenlos überfüllt. Doch Nelia hatte Glück und konnte einen der beliebten Plätze vor dem Laden ergattern. Ihr kleiner Tisch stand direkt in der Sonne und sie hatte die beste Aussicht auf die nur wenige Meter entfernte Sacré-Cæur.
»Nelia, da bist du ja schon wieder. Was möchtest du haben?«
Florence schenkte ihr ein Lächeln.
»Un Café au Lait, s'il te plaît.«
»Bien sûr.«
Zum ersten Mal seit Stunden zog Nelia ihr Handy aus der Handtasche und warf einen Blick darauf, während sie auf ihren Milchkaffee wartete.
Als sie sah, dass ihre Mutter bereits zehn Mal versucht hatte, sie zu erreichen, wusste Nelia, dass sie sich gleich, wenn sie zurückrief, etwas anhören durfte. Sie wählte die Nummer ihrer Mutter und der Freizeichenton erklang. Wenige Sekunden später wurde ihr Anruf entgegengenommen.
»Nelia, kannst du mir sagen, wo zum Teufel du bist? Ich habe im Fernsehen gesehen, was passiert ist. Warum hast du nicht angerufen? Dein Vater und ich haben uns Sorgen gemacht! Bist du bei Maximilian?«
Die Worte ihrer Mutter prasselten nur so auf sie ein, sodass Nelia für einen kurzen Augenblick das Telefon von ihrem Ohr nehmen musste.
»Hallo Mama, schön, dass du dich doch für mich interessierst. Ich bin in Paris. Angerufen habe ich nicht, weil das ohnehin nicht in euren Tagesplan gepasst hätte. So wie mein ganzes Leben nicht in euren Plan passt. Nein, ich bin nicht bei Maximilian. Der vögelt wahrscheinlich gerade der nächsten Blondine das Hirn aus dem Kopf. Und übrigens, ich habe den euch so verhassten Job bei Berlin Trends verloren, dafür aber eine Sonderzahlung von siebentausend Euro eingestrichen. Bist du jetzt stolz auf mich?«
Das hätte Nelia in diesem Moment am liebsten geantwortet. Stattdessen atmete sie tief durch und versuchte, ruhig zu bleiben.
»Hallo Mama.«
»Nun sprich schon, Kind. Geht es dir gut?«
»Ja, ich war nicht zu Hause, als es passiert ist.«
»Ein Glück. Weißt du schon, wie es weitergeht und wie hoch der Schaden ist? Kannst du eine Weile bei Maximilian bleiben? Wenn du Geld brauchst, sag Bescheid, wir überweisen es dir sofort.«
»Nein, Mama, ich brauche kein Geld. Und Maximilian und ich haben uns getrennt.«
»Bitte was?«
»Er hat mich betrogen. Ich will nicht darüber reden.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es einen Moment still. Heike Winter dachte darüber nach, ob sie sich verhört hatte oder ob ihre Tochter sich mal wieder einen schlechten Scherz mit ihr erlaubte. Es war absolut indiskutabel, dass Nelia die Beziehung zu Maximilian beendete.
»Doch, wir werden jetzt darüber sprechen. Was soll das bedeuten, er hat dich betrogen?«
»Ist das dein Ernst, Mama? Was gibt es daran nicht zu verstehen?«
Nun wurde Nelia doch ungehalten. Sie wusste genau, dass ihre Mutter sich keine Sorgen darum machte, dass das Herz ihrer Tochter gebrochen worden war. Sondern nur darum, dass sie den angeblich perfekten Schwiegersohn in die Wüste geschickt hatte.
»Nachdem meine Wohnung gestern unglücklicherweise in die Luft geflogen ist, habe ich gehofft, dass ich bei Maximilian bleiben kann. Leider hatte er mehr Interesse an so einer lebenden Barbie, als an mir.«
»Ihr könnt doch sicher darüber sprechen?«
»Nein, das können wir nicht, weil ich kein Interesse daran habe.«
»Aber wo bist du denn jetzt, Nelia? Sag mir nicht, dass du in einer stinkenden Turnhalle schläfst, wie sie sie im Fernsehen gezeigt haben?«
»Ich bin in Paris.«
Wieder