Wieder klingelte Nelias Handywecker schrill und ihre Hand schoss unter der Bettdecke hervor. Blind tastete sie nach dem Störfaktor auf ihrem Nachttisch und stieß dabei das Wasserglas um, das sie am Abend zuvor mit ans Bett genommen hatte. Sie konnte es nicht ausstehen, in der Nacht aufstehen zu müssen, weil sie Durst bekam.
»Lass das jetzt nicht wahr sein«, jammerte sie und lugte unter der Decke hervor. So sehr sie auch hoffte, gleich aus diesem bösen Traum aufzuwachen, sie tat es nicht. Das Wasser, das sich noch vor wenigen Sekunden in ihrem Glas befunden hatte, lief nun in kleinen Bächen von ihrem Nachtschrank und tropfte in die Pfütze, die sich auf dem Fußboden gebildet hatte.
Der Druck auf Nelias Kopf wurde schlimmer, als ihr Handy sich erneut lautstark bemerkbar machte. Doch dieses Mal war es nicht der Wecker, der sie daran erinnerte, dass sie zur Arbeit musste, sondern ein eingehender Anruf.
Notgedrungen warf Nelia die Decke zurück, griff nach ihrem Telefon, welches das Wasser nicht verschont hatte, und wischte es lieblos an ihrer Bettdecke trocken, bevor sie den Anruf entgegennahm.
»Hallo?«, meldete sie sich und fuhr in einer schnellen Bewegung mit den Fingern durch ihre brünette Lockenmähne.
»Kannst du mir erklären, wo du steckst?«, fuhr ihre Kollegin Jennifer sie an. »Stella läuft Runden in ihrem Büro und fragte mich alle fünf Minuten, ob du schon da bist. Sie will dringend mit dir sprechen. Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?«
»Meine Kolumne verbucht endlich Erfolge ...«, hauchte sie und konnte es selbst kaum glauben.
Vor einem halben Jahr, nach Ende ihres Germanistik-Studiums, hatte Nelia sich bei Stella Ahlers Lifestyle-Magazin Berlin Trends beworben. Sie hatte ihren Abschluss mit Bravour gemeistert, was Stella beeindruckt hatte. Die Chefin des Magazins bot ihr ein einjähriges Volontariat an und gab ihr die Chance, nicht nur Einblicke in den Magazinalltag zu bekommen, sondern auch eine kleine Online-Kolumne über die Trends ihrer Generation zu schreiben.
Seit ihre Kolumne Nelias Welt das erste Mal online gegangen war, wartete sie auf Feedback. Stella hatte sie immer vertröstet und ihr gesagt, sie müsse die Entwicklung der Kolumne erst abschätzen können. Nach zwei Monaten war klar, dass die Beiträge der Zweiundzwanzigjährigen keinen großen Anklang beim Publikum von Berlin Trends fanden. Doch das hatte Nelia nicht entmutigt. Sie gab sich noch mehr Mühe, arbeitete Umfragen mit ein und unterhielt sich mit Gleichaltrigen. Die Klickzahlen stiegen, auch wenn der große Erfolg ausblieb. Sollte sich dieser Wunsch endlich erfüllt haben?
»Was auch immer es ist, du solltest dich beeilen und sofort in die Redaktion kommen«, erwiderte Jennifer und beendete den Anruf.
Mit einem Lächeln legte Nelia ihr Handy beiseite und warf einen Blick auf die Wasserpfütze, die leider nicht von allein verschwunden war. Doch selbst diese konnte ihre gute Laune, die sich nach dem Telefonat einstellte, nicht trüben.
Heute war der beste Tag ihres Lebens und das würde sie sich von nichts und niemanden kaputtmachen lassen. Punkt!
Dessen war sie sich zumindest in dieser Sekunde zu einhundert Prozent sicher.
Nachdem Nelia den Wasserfleck aufgewischt hatte, eilte sie ins Badezimmer, wo sie sich frisch machte und ein leichtes Make-up auflegte. Sie warf den Kopf nach vorn und fuhr mit den Fingern durch ihre langen, lockigen Haare. Anschließend zog sie eine schwarze Bluse und eine dunkelblaue Jeans an, kontrollierte ihr Aussehen ein letztes Mal und musste feststellen, dass der Concealer ihre Augenringe nicht abgedeckt hatte.
Was solls, dachte sie und ging in den Flur, wo sie in ihre schwarzen Pumps schlüpfte, ihre Sonnenbrille auf die Nase setzte und ihre Tasche über die Schulter hing, bevor sie die Wohnung verließ.
Der Weg zum Bürogebäude, in welchem das Magazin ansässig war, dauerte nur zehn Minuten. Nelias summte leise, als sie zur Bushaltestelle lief, und atmete die herrlich warme Mailuft tief ein. Es war bis jetzt ein wunderschöner Frühling gewesen, der Freude auf den bevorstehenden Sommer machte. Die Vögel zwitscherten und die Menschen kehrten nach dem Winter in die kleinen Cafés und Parks zurück. Nelia liebte den Frühling in Berlin, denn wenn die Blumen blühten, die Bienen leise summten und das Getümmel auf den Straßen ausbrach, wurde die Hauptstadt wieder schön.
Am Bürogebäude angekommen, fuhr Nelia mit dem Fahrstuhl direkt in die dritte Etage. Yvonne vom Empfang begrüßte sie so freundlich wie jeden Morgen und Nelia steuerte direkt auf ihren Schreibtisch zu.
»Da bist du ja endlich!«, rief Jennifer quer durch das Großraumbüro und sicherte sich die Blicke der Kollegen. »Du sollst direkt zu Stella gehen.«
»Hat sie schon irgendetwas gesagt?«, wollte Nelia wissen. Ihre Kollegin schüttelte den Kopf.
»Kein Wort. Nun geh schon, ich bin so ungeduldig.«
»Neugierig bist du gar nicht, hm?« Nelia setzte ihre Sonnenbrille ab und legte sie neben ihre Computertastatur, bevor sie ihre Bluse glatt strich und sich in die Höhle des Löwen begab.
Heute ist der beste Tag meines Lebens, erinnerte sie sich und klopfte zaghaft gegen Stellas Bürotür.
»Herein!«, rief ihre Chefin aus dem Inneren und Nelia betrat das modern eingerichtete Zimmer. »Ah, du bist es. Das wird aber auch Zeit. Setz dich bitte.«
Stella deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und Nelia nahm Platz. Unsicher sah sie ihre Chefin an. Plötzlich bekam sie Zweifel daran, ob es wirklich darum ging, dass ihre Kolumne schlagartig von den Lesern angenommen wurde. Sollte Stella dann nicht etwas glücklicher dreinschauen? Stattdessen waren ihre perfekt geschminkten, fast puppenhaften Gesichtszüge angespannt. Sie strich sich eine lange, blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und räusperte sich.
»Also, Nelia, ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.«
Stella hatte ebenfalls Platz genommen und sortierte einige Zettel auf ihrem Schreibtisch. Sie konnte Nelia kaum ansehen und diese wusste sofort, dass das kein gutes Zeichen war.
»Deine Kolumne erzielt nach wie vor nicht die Reichweite, die wir erwartet und uns gewünscht hätten. Statt zu steigen, sinken die Leserzahlen mit jedem Artikel. Das liegt nicht daran, dass du nicht schreiben kannst, du triffst offenbar die Themen nicht, die deine Generation interessieren«, erklärte Stella ruhig, griff sie aber schon in der nächsten Sekunde an wie ein bissiger Terrier. »Niemand will etwas über Bücher und kleine Cafés lesen. Social Media Trends, Wie werde ich zum Influencer ... das Neuste über Heidi Klums Topmodels ... das will deine Generation wissen. Die Kolumne ist zu brav und zu langweilig. Die jungen Leute wollen erfahren, wie sie ihre Träume erreichen und in der sozialen Welt bekannt werden können, aber das bietest du ihnen nicht. Bei dir erfahren sie lediglich, wie man den stressigen Alltag vergisst und sein Wochenende verschwendet.«
Nelia schluckte schwer.
»Verstehst du, was ich dir damit sagen will, Nelia?«
Stella klimperte unschuldig mit den falschen Wimpern, als hätte sie ihre Angestellte auf ein Glas Wein eingeladen, anstatt sie zu kritisieren.
»Nein, ehrlich gesagt nicht.«
Abwehrend verschränkte Nelia die Arme vor der Brust, weil sie ahnte, dass dieses Gespräch keinen positiven Ausgang nehmen würde. All ihre Hoffnungen zerschlugen sich innerhalb einer Minute und hinterließen nur ein Stechen in ihrem Herzen.
»Ich will damit sagen, dass du die besten Voraussetzungen hattest, selbst ein Social Media Star und Influencer zu werden – so wie ich – vorausgesetzt du hättest deine Kolumne richtig angepackt. Nur deswegen habe ich dir diese Chance gegeben. Aber du hast sie nicht genutzt, Kleine.«
»Was versuchst du mir zu sagen, Stella?«
»Ich habe mich lange mit den Kollegen darüber unterhalten, wie es mit dir und deiner Kolumne weitergehen soll. Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass wir sie nicht länger veröffentlichen werden.«
Nelias Welt brach im wahrsten Sinne des Wortes in dieser Sekunde zusammen. Sie