Daher muss ich meine Erinnerungen – ich habe lange überlegt, ob ich diesen Teil meines Lebens überhaupt niederschreiben soll - damit schon früh beginnen, weil es meinen bisherigen Alltag entscheidend korrigiert: Ich gebe den Handel mit Menschen auf. Nur noch diese eine Fahrt, dann ist endlich Schluss damit, Menschen zu Kulis zu machen! Ich möchte teilhaben an diesem neuen Chaos in Europa und die Schwäche in diesem Chaos für mich und meine Zukunft nutzen.
Ich befinde mich mit meinen Segler, der stolzen „Swan“, an den Stränden des wunderschönen Nigerdeltas in Westafrika, auch Sklaven- und Elfenbeinküste genannt. Mein stets gutgelaunter Obermaat John McFinn, mein treuer, bulliger, bärenstarker Schotte aus einem kleinen Nest in den Highlands, den die große Weite des Meeres aus den Bergen von den Schafherden seiner Familie lockte, drei Jahre älter als ich selbst, erklärte mir gestern seine Sicht unmissverständlich: „Kapitän Drake, ich frage mich, was wir hier tun? Ist das die Seefahrt, von der wir träumen? Von weiten Reisen in noch unbekannte Länder, weit, weit weg von England? Diesen Handel mit den Schwarzen können wir doch nicht bis an unser Lebensende durchführen. Das würde uns eines Tages krank machen! Wir sollten aussteigen, so schnell wie nur möglich.“ Als ich ihm erkläre, dass dies wahrscheinlich unsere letzte Fahrt als Sklavenhändler sei, strahlte der Bursche mich glücklich an.
„Bei Sankt Andrew, das höre ich gerne.“
An diesem Teil der afrikanischen Westküste befindet sich seit ein paar Jahren einer der übelsten Treffpunkte der internationalen Sklavenhändler und Sklavenjäger, die ihre fetten Geschäfte mit der schwarzen Haut, mit Elfenbein, Gewürzen und Gold machen. Doch das ertragreichste Geschäft ist der Menschenhandel. Es ist ein Fanggebiet, ein Ort auf einer Insel im Golf von Biafra – die Engländer und Holländer nennen ihn Bonny-Island - für finstere Gesellen, brutale Schurken und menschenverachtende Abenteurer - für Männer wie mich. Heute weiß ich, was das alte englische Sprichwort bedeutet: Die Welt ist gut und vollkommen überall dort, bevor der Mensch sie betritt.
Ja! Ja! Und noch einmal: Ja!
Einer der etwa 85 gefangenen Sklaven des Stammes der stolzen Igbo, die wir in einem roh gezimmerten Gatter aus Holzstämmen und kleineren Ästen zusammengetrieben haben, ein muskulöser, großgewachsener Kerl von etwa zwanzig, zweiundzwanzig Jahren, dessen schmale Nase und die schmalen Lippen zu seinen eher feinen Gesichtszügen beitragen, ballt beide Fäuste. Mächtige Fäuste. Die Wut ist ihm anzumerken. Wut und Hilflosigkeit. Er spuckt verächtlich auf den Boden. Vor dem Gatter liegen viele farbenfrohe Masken aus schwerem Holz, die wir den Sklaven abgenommen haben. Drei besonders schöne Masken habe ich ausgesucht, ich will sie mit in meine Heimat nehmen – als Andenken, denn ich habe mich seit etwa zwei Jahren zu einem Sammler entwickelt, der Erinnerungen anhäuft, um sich später einmal daran erfreuen zu können. Wann soll dieses „später“ sein? Ich selbst muss über diese Albernheit lachen.
Ich denke: Was für ein fürchterlicher Ort - verdreckt, nach Urin, Kot, Schweiß und Abfällen stinkend. Überall Schwärme von dicken Fliegen und Stechmücken, Ratten, Schlangen und anderem Kriechtier. Ursprünglich ein Paradies, dieses Stück unserer Erde, doch der Mensch, der fremde Mensch - der aus nackter Angst von den Einheimischen „Master“ genannte, brutale weiße Menschendieb - machte die Erde zum Pfuhl. . .
Mit zunehmendem Alter packt mich eine bisher unbekannte Scham, wenn ich an meine Kaperfahrten denke, an die Kämpfe, an die Toten und Verwundeten. Auch ich bin ein gewalttätiger Mensch, der seine Feinde tötete, der das spanische Gold raubte und dabei eine besondere Fähigkeit bewies. Auf diese Art wurde ich reich und frei. Natürlich gehören Mut und Neugierde, Verstand, Fleiß, Beharrlichkeit und Können dazu. Vielleicht hatte ich auch nur Glück, das Glück des Tüchtigen. John McFinn hat da einen Spruch aus seiner schottischen Bergwelt, den er gerne zitiert: „Das Glück ist nie ganz ohne Leid, denn zum Begleiter hat es den Neid!“
Die Gefangenen, halbnackte Frauen und Männer, nur mit einem kleinen Lendenschurz bekleidet, stehen regungslos in dem Verschlag, bis zu den Knöcheln im Schlamm versunken, denn seit zwei Tagen haben gewaltige Regenmassen den Boden in ein Schlammbeet verwandelt. Sie kommen mir vor wie Tiere, die zum Schlachter geführt werden, wohl schon ahnend, dass ihr Leben ihnen keine Glücksmomente mehr verspricht. Panische Angst ist in den unglücklichen Gesichtern zu erkennen. Sie blicken stumm auf mich, ihren neuen Besitzer. In der untergehenden Abendsonne rascheln die Blätter der Mangrovenbäume im leichten Westwind. Die nun scheinende Sonne hüllt die vielarmige Mündung des Niger in ein gleißendes, goldfarbenes Licht. Die Schwüle des Tages weicht endlich einer angenehmen schwachen Brise.
Der heruntergekommene kleine Ort mit dem geschützten Hafen ist mir nicht fremd. An dieser Stelle findet der Kauf der Sklaven statt, nachdem holländische Sklavenjäger für Nachschub gesorgt haben. Ich bin immer sehr froh, wenn ich mit meinem Schiff dieses Drecksnest verlassen kann. Der kleine Umweg an einer vorgelagerten Untiefe vorbei – die Felsen sind gut auszumachen – belohnt den Steuermann, der ohne Probleme den Hafen erreicht und wieder verschwindet. Die ungepflegten zwölf Holzhäuser, in denen Unterkünfte, ein kleiner, schmuddeliger Lebensmittelladen, ein Weinverkäufer und ein paar schwarze Huren untergebracht sind, tragen nicht zum Ansehen des Hafens bei. So hat das Kaff den zweifelhaften Ruf als Sklavenmarkt erhalten. Es stört mich auch der Gestank dieses kleinen Hafens. Dreck zieht immer Dreck an, denke ich angewidert. Abschaum umgibt sich mit Abschaum. Vor ein paar Jahren, so wird erzählt, sei es zu einem blutigen Aufstand der Sklaven gekommen: Es soll 52 Tote gegeben haben. Die Sklaven hätten plötzlich ihre Stricke durchschnitten und seien auf die Mannschaft des Sklavenjägers losgestürmt. Nur mit ihren Fäusten. Die Jäger hätten daraufhin das Feuer eröffnet und wahllos auf die laut schreienden Schwarzen geschossen. Wer hierdurch nicht aufgehalten wurde, sei mit Dolchen und Schwertern niedergemacht worden. Am Ende waren 46 Sklaven und sechs Seeleute tot gewesen. Es habe sechs Wochen gedauert, bis neue Kulis verschifft werden konnten. Nach diesem Vorfall seien die Fesselung verstärkt und die Bewachung der Gefangenen erhöht worden. Als der „Schlachter vom Nigerdelta“ sei Jan Hendrik van Breukelen von da an bezeichnet worden.
Der junge Sklave, sein Name ist Mbopo - wie mir der schmierige Holländer erzählte, er sei er eine „Art Prinz“ - zeigt plötzlich auf mich und ruft mir zu: „Weißer Master, unsere Götter des Waldes werden mir beistehen. Sie sind starke Götter, stärker als eure Götter. Sie sind Götter der großen Mutter Natur, der Ala, die alles Leben erschuf. Die Vormenschen ebenso, wie mich und Dich auch, Master. Ala repräsentiert den zweifachen Aspekt unserer Welt: Fruchtbarkeit und Tod. Sie wird oft als „Große Mutterschlange“ dargestellt und wird vom Volk der Igbo als Mutter aller Dinge verehrt.“
Ich staune über die gepflegte Wortwahl des Wilden, der sehr selbstbewusst auftritt. Der Gefangene schließt seine großen, dunklen Augen, so, als wolle er beten. Neben dem jungen Mann steht ein kleines Mädchen, nur mit einem dünnen Hemdchen bekleidet. Tränen rollen über das hübsche Gesicht der Kleinen. Vorsichtig ergreift sie die Hand des Jünglings und zeigt in meine Richtung. Sie lächelt dabei zaghaft. Die Mitgefangenen summen leise ein Lied. Der gut aussehende Sklave ist offenbar ihr Bruder oder ihr Vater. Das Mädchen sagt etwas, was ich nicht verstehen kann. Behutsam streichelt Mbopo mit seiner linken Hand über das wie Seide glänzende Haar des Kindes. Die rechte Faust hält er geballt.
Der Gefangene ruft mir kurz danach zu: „Master Drake, ich war Sklave bei den Holländern und spreche daher Eure Sprache ein wenig. Ich konnte von einem Sklavenschiff entfliehen, erreichte schwimmend, aber total erschöpft das Ufer und kehrte als einer der vielen Söhne unseres Königs Ngwalla wieder zu meinem Stamm ins Königreich Nri zurück. Nun bin ich erneut gefangen worden, weil wir von den Anführern unseres eigenen Volkes, meinen neidischen Brüdern, verkauft worden sind. Von gemeinen, goldgierigen Verrätern! Das ist eine große Enttäuschung für mich, von den eigenen Brüdern in die Sklaverei verkauft zu werden, nur weil ich stark bin, nur weil ich König werden soll, eines Tages, wenn der große Ngwalla gestorben ist und bei den Göttern lebt. Aber die große Gottesmutter wird sie bestrafen! Ala wird mich rächen! Aber ich frage mich: Was