Mit welchen Augen soll ich meine Welt betrachten? Mit den Augen des Patrioten, des Piraten oder Entdeckers? Oder mit den Augen eines verliebten Ehemanns, des Ex-Liebhabers und Günstlings der Königin? Den Augen eines wohlhabenden Bürgers, eines Seehelden und Sir? Ich bin ja nicht der wilde, junge Mann gewesen, eher ein träumerischer Junge aus einem sehr streng calvinistisch geprägten Elternhaus, der aber sehr früh wusste, was er wollte. Ich war keiner dieser geilen, jungen Böcke, der Mädchen um jeden Preis erobern wollte, weil er seine Wollust nicht zügeln konnte. Es war bei mir eher Neugierde als Gier nach dem anderen Geschlecht. Ich hatte in diesen Jahren den Spruch meines strengen Vaters im Ohr, der das Weib als ein Gefäß der Sünde bezeichnete. Meine Mutter bestrafte ihn jedes Mal dafür, wenn er diesen Satz sprach, indem sie ihm nachts die Pflichten einer Ehefrau verweigerte. Ich verstand erst später, was das bedeutete. Also: Mit welchen Augen? Ich habe mich entschieden: Mit den Augen eines Patrioten! Ja, die Vaterlandsliebe ist mir immer sehr wertvoll gewesen ohne blind zu sein vor den Meinungen Andersdenkender. Ich bin also daher kein Nationalist, obwohl ich den Erfolg Englands jetzt genieße – als Seeheld, als Sir und Admiral, als eine Art Legende schon zu Lebzeiten. Vielleicht bin ich ein Idealist. Aber: Kann man Idealist sein, wenn man ein Pirat und Freibeuter ist, den der spanische König am liebsten an den erstbesten Mast hängen würde? Hätte er ihn denn!
Ich finde, viele meiner Zeitgenossen haben verlernt, dankbar, vielleicht sogar etwas demütiger zu sein. Wir wollen als Bürger immer mehr, wollen immer höher hinaus, immer mehr im Wohlstand und im Luxus leben. Dabei verdirbt Luxus den Ehrgeiz, denn wenn wir dieses Ziel nicht erreichen, geben wir anderen, meist „denen da oben“, die Schuld. Das geht quer durch alle Schichten. So entstehen Revolutionen, wenn die richtigen Volksverführer zu Werke gehen. Sie haben heute Hochkonjunktur! Wir träumen von einer Neuen Welt, die wir uns Untertan machen wollen. Amerika heißt das Zauberwort. Amerika, der Süden spanisch, der Norden immer noch unbekannt, unberührt. Was wird uns dort erwarten? Wir kennen nur die Küsten des riesigen Landes, mehr nicht. Wer lebt dort, wie viele Menschen leben dort und wo?
Wie ein Goldenes Kalb umtanzen wir den neuen, riesigen Kontinent, der uns noch sehr fremd ist. Mein Gott: Erst vor einhundert Jahren entdeckt und nun schon zur Hälfte ruiniert! Die Spanier und Portugiesen haben der alten Welt gezeigt, wie wir Engländer es im Rahmen einer Besiedelung des nördlichen Teils des Kontinents nicht machen sollten. Die Frage ist aber: Sind wir besser, vorsichtiger, weniger brutal, also humaner als diese Katholiken? Ich bezweifle das . . . Es ist immer die Frage, wer gerade an der Macht ist. Wer das Zeug dazu hat, die Zukunft für sein Königreich zu gestalten und das Volk, die Bedürfnisse des Volkes, nicht aus den Augen verliert. Sind das die Gedanken eines Träumers, eines Illusionisten? Vielleicht. Vielleicht bin ich der Ansicht, die Zukunft ist so wie die Gegenwart. Dabei weiß ich aus der Geschichte, dass das nicht stimmt. Es ist immer noch der Hochmut der Weißen und der Missionseifer Roms, die sich in der Neuen Welt auf einer höheren Stufe der Zivilisation fühlen, unter dem Mantel, den Fremden Gutes zu tun. Dabei ist es die brutale Form der Ausbeutung und des Rassismus, der nur deshalb entstand, um die Plünderung außereuropäischer Länder zu rechtfertigen. Schwarze Sklaven werden wie Tiere zur Schau gestellt und auf Jahrmärkten gegen Eintritt präsentiert. Wir fühlen uns als die Norm gegenüber den afrikanischen und asiatischen Kulis und lassen bei jeder Gelegenheit unsere angebliche Dominanz walten. Doch schon in der Antike gab es Aufstände von Sklaven, das kann sich wiederholen.
Ich sollte wirklich das Grübeln lassen. Zu viele Gedanken behindern den Schreibfluss. Wer ein schlechtes Gedächtnis hat, wird nicht vermeiden können, seine Fehler zu wiederholen. Auch beim Schreiben. Wenig Mut macht mir daher der Spruch meiner Mutter: „Große Männer verdanken ein Viertel ihres Ruhms ihrer Kühnheit, zwei Viertel dem Glück und das letzte Viertel ihrer Brutalität!“ Ich schreibe, bin ich schon in der Lage, die Welt, mein Leben und das meines Landes zu beschreiben? Ja, ich bin! Ich habe mich auf dieses Abenteuer eingelassen, wie es ausgehen wird, weiß ich nicht. Dabei ist mir inzwischen klar geworden: Mein Leben ist es wert, erzählt zu werden. Vielleicht als ein Beispiel für alle, die nicht wohlgeboren wurden. Männer wie ich haben eine Chance im Leben. Das zeigt mein Beispiel deutlich. Dabei habe ich inzwischen begriffen: „Das Lesen heißt Antworten suchen, das Schreiben stiftet eher Verwirrung!“ Ich gebe zu, dass ich die Zukunft Englands deutlich vor mir sehe: Eine blühende Insel, die in der Welt große Bedeutung erlangt. Wir werden viele fremde Länder erobern, werden Völker beherrschen, werden Menschen, die sich uns in den Weg stellen, vernichten. Ich frage mich aber auch, was werden wir antworten, wenn wir vor unserem Richter stehen? Was kann ein Sieger antworten, wenn er gesiegt hat? Dass ihm die vielen Toten leidtun? Auch die britische Welt wird brutal sein, das habe ich inzwischen begriffen, obwohl ich immer noch an Menschen glaube, die human miteinander umgehen werden. Sicher bin ich mir aber nicht mehr.
EINS
EINS.
Buckland Abbey, Landsitz der Familie Drake.
Ich liebe dieses alte Gemäuer, seine grauen, verwitterten Steine, in denen man die Gesänge der Mönche noch zu hören glaubt, wenn man es denn vermag. Wo man das Lachen der Klosterbrüder wahrnimmt, wenn sie ihr selbstgebrautes Bier trinken. Oder die Gebete der Männer ahnen kann, wenn sie ganz nah bei Gott sein wollten. Ihr Flehen, ihre Inbrunst, wenn sie ihre Sünden beichten und ihre Verzweiflung, wenn ihre Geilheit sie heimsucht und keine Erlösung findet! Wenn sie sich mit der Peitsche ihre Rücken blutig schlagen, um Buße zu tun und Gnade zu finden. Eines fernen Tages. Klostermauern könnten sehr viel erzählen von Verführung, Liebe unter Männern, Vergewaltigung und sexuellen Abhängigkeiten. Mir sagen sie ab und zu: Lebe Dein Leben, Francis Drake!
Die Sonne, die den Himmel färbt, mit Farben, die kein Maler zu mischen vermag, stimmt mich froh. Endlich ist das verhasste englische Sauwetter, über das Fremde ständig Witze machen, vorüber. Ich liebe meine Heimat, mein Land und die Menschen – aber dieser Nebel und der ständige Regen sind dunkle Meilensteine, um trotz aller Begeisterung depressiv zu werden. Ist das schon eine erste Fehlinterpretation? Meine Frau Elisabeth, deren gleichbleibende Fröhlichkeit mich heute kaum anzustecken vermag, lächelt mich etwas gequält an und trinkt einen kleinen Schluck aus dem roten venezianischen Pokal, den ich ihr aus Venedig mitbrachte. Cheers! Zum Wein essen wir kleine, frischgebackene Eierkuchen mit Schmand und Marmelade. Dann fragt sie besorgt und blickt mich mit ihren schönen, wasserblauen Augen nachdenklich an:
„Glaubst Du denn all das, was die Leute der sogenannten Gesellschaft über sie erzählen?“
Ich schüttele belustigt den Kopf, denn ihre Stimme hört sich gereizt an, so, als ärgere sie der Klatsch, der über Königin Elisabeth verbreitet wird. Mein Frau setzt ihre zornige Rede fort: „Francis, Du kennst doch die Menschen und ihre Freude am Klatsch und an der üblen Nachrede und Du kennst die Königin. Das Gerücht ist ein beliebtes Gespenst, das immer dann und dort eingesetzt wird, wenn der oder die zur Zielscheibe werden soll, dem man schaden will. Ein Gerücht verbreitet sich schnell und findet dort bereitwillig Gehör, wo es willkommen ist. Wir Menschen sind offenbar gerne bereit, falsche Dinge gerne aufzunehmen – ein übler Charakterzug, gewiss, doch eben menschlich. Die Menschen ändern sich in dieser Beziehung nie, mein Lieber. Sie ziehen Leistung, Erfolg und Ehre in den Schmutz. Sie sind nun einmal respektlos und undankbar. Sie kritisieren aus der Ferne, ohne Amt, ohne Verantwortung. Wenn ich schon höre: Man sollte . . . So ist der dumme Untertan nun einmal! Das war zu jeder Zeit so. Die Menschen – egal welcher