»Ein bisschen schon«, prustete Laura heraus und wunderte sich, dass es sie nicht einmal störte.
»Da siehst du, wie jede Ideologie blind und dumm machen kann.«
»Hältst du mich für dumm?«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte er aufrichtig, »ich glaube auch nicht, dass du ideologisch verbohrt bist, nur verführt.«
»Ich dachte, das hast du vor.«
»Was?«
»Mich zu verführen.«
»Natürlich«, meinte er breit grinsend, »aber nicht ideologisch.«
So kabbelten sie sich während der ganzen Fahrt, ohne jemals auch nur in die Nähe eines echten Streits zu kommen. Als sie dann in Viña als Erstes ausgerechnet in ein Drive In fuhren, um einen Big Mac zu verzehren, wunderte sie sich, dass keine Sekunde das Gefühl aufkam, Verrat an ihren politischen Zielen zu begehen. Laura genoss es, wie Mario sie damals behandelte. Bei aller Entschlossenheit, sie zu erobern, wahrte er einen Rest von Höflichkeit und Zurückhaltung. Er war manchmal fast rührend altmodisch, ohne sich politisch eindeutig konservativ zu äußern.
Seine Haltung zu der ganzen Entwicklung in Chile war nur schwer einzuschätzen. Laura wusste nie genau, ob er seine Einstellung dazu nur vor ihr verbarg, oder ob ihn das wirklich nicht interessierte. Auf jeden Fall schien es für ihn selbstverständlich zu sein, Geld zu haben.
Er fuhr mit ihr an die Strände von Reñaca, Concon, Zapallar und Algarrobo. Laura liebte die raue Kraft des Pazifiks, aber das Wasser war ihr zu kalt. Er lud sie in elegante Restaurants in Santiago und in Viña del Mar ein. Laura genoss das Essen, hatte dabei aber ein schlechtes Gewissen, das sie mit besonderem Einsatz bei der Projektarbeit der Universität für das Volk zu beschwichtigen suchte.
Das Haus seiner Eltern in Viña schien mit seinem Luxus und mit dem schönen Blick über die Bucht aus einer anderen Welt zu stammen.
Es hatte nichts mit dem Land gemein, in dem es poblaciónes gab, wo zehnköpfige Familien in einem Zimmer in ihren Wellblech-, oder Holzhütten lebten. Laura verstand sich selbst nicht. Eigentlich müsste sie Leute wie Mario hassen. Aber sie hatte Gefallen an dem, was er ihr zeigen konnte.
So ein Luxus in einem Land, wo es auch Hunger gab, stand eigentlich niemandem zu. Aber Marios Eltern waren als arme Sizilianer eingewandert und hatten es mit Eisdielen und Pizzerien in nur einer Generation zu Reichtum gebracht. Was gab es dagegen zu sagen? Lieber sprachen sie über Musik. Über Jazz. Weniger über Folklore und die neue Liedbewegung, die er aus musikalischen, nicht aus inhaltlichen Gründen ablehnte, wie er immer wieder betonte.
Er machte ihr kleine Geschenke, die sie ihm wieder zurückgab, weil sie sich nicht kaufen lassen wollte. Das respektierte er mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen. Obwohl er bei anderen manchmal eine Tendenz zu Großkotzigkeit und Arroganz offenbarte, behandelte er Laura mit entwaffnender Zärtlichkeit und Sensibilität.
Sie schliefen gern und oft miteinander, nachdem sie im Haus seiner Eltern überwältigt vom Pisco Sour, dem Blick über die Bucht von Viña, dem klaren Sternenhimmel und dem Charme Marios die Initiative für das erste Mal ergriffen hatte.
Aber im Laufe der Zeit begann etwas, in ihr zu rebellieren. Es störte sie, wie alle zufälligen Gespräche über die politische Situation in Chile bei ihm sofort wie Wasser in der Wüste versickerten. Laura verlor ihre Spontaneität. Sie zensierte sich selbst und litt zunehmend mehr unter dieser freiwilligen Aussparungsstrategie als unter ihrem schlechten Gewissen.
Wie aus einem angenehmen aber verbotenen Traum weckte sie die Stimme eines sehr dunkelhäutigen Studenten mit schwarzem glatten Haar und glühenden dunklen Augen. Bei einer der zahlreichen Diskussionen an der Universität zwischen Gegnern und Befürwortern der Unidad Popular. Zwischen den Kommunisten, die dazugehörten und dem M.I.R, der radikalen Gruppe, die direkte Aktionen und den bewaffneten Kampf forderte.
»Genossen, gebt doch endlich eure naive Haltung auf. Wir haben hier keine sozialistische Revolution. Die bisher Einzige in Lateinamerika gab es in Kuba. Dort hat man nicht gewartet, ob die Verfassung Enteignungen zulässt. Das Land gehört den Bauern, nicht den Grundbesitzern. Sie müssen es sich zurückholen. Die Fabriken gehören den Arbeitern, nicht den Fabrikbesitzern. Sie müssen sie besetzen. Aber die Bourgeoisie wird freiwillig nichts zurückgeben. Ihr verlängerter Arm, das Militär, wird sie schützen. Deshalb muss sich das Volk, müssen wir uns bewaffnen!«
»Genau damit fordert ihr das Militär, das sich an die Verfassung hält, doch erst heraus!«, rief einer der kommunistischen Studenten.
»Das Militär steht nie aufseiten der Revolution. Es wird in jedem Fall putschen, um die Besitzverhältnisse zu erhalten!«, rief der Dunkle zurück.
Laura war aufgestanden und weiter nach vorne gegangen, um zu sehen, ob es der gleiche Student war, der ihr bei einer Musikveranstaltung für eine población im Süden Santiagos schon aufgefallen war. Damals spielte er Quena. Er war es. Fasziniert verfolgte sie die Diskussion, bei der er und die Anhänger des M.I.R. eindeutig in der Minderheit waren. Dieser beinahe schmächtige junge Mann strahlte für sie die revolutionäre Leidenschaft aus, von der sie bei den Erzählungen ihres Vaters immer geträumt hatte. Sie hatte Mario ganz vergessen, der auf seinem Platz sitzen geblieben war. Erst als eine Stimme aus der Ecke, in der die rechten Studenten saßen, rief: »Ihr seid alle gleich. Was ihr Revolution nennt, ist nur Neid! Das Einzige, was Ihr wollt, ist wegnehmen!« Erst in diesem Moment drehte sie sich um zu Mario und glaubte, ein anerkennendes Nicken und einen zustimmenden Blickwechsel zwischen Mario und dem Schreier bemerkt zu haben.
Sie wartete das Ende der Diskussion ab und sprach den M.I.R.-Studenten an.
»Ich glaube, du hast recht. Wie kann ich etwas tun?«
»Gib mir deine Telefonnummer. Wir melden uns.«
Nachdem sie ihm ihre Telefonnummer aufgeschrieben hatte, wollte sie zurück zu Mario gehen.
Er war nicht mehr da.
*
Als Hans in den Keller kam, machten die Musiker gerade Pause. Der Einzige, der sich mit niemandem unterhielt, war der Klarinettist. Er stand mit dem Rücken zum Tresen, blickte ins Leere und trank mechanisch kleine Schlucke aus seinem Wasserglas. Er sprach ihn an: »Do You see any problem when Ill come with my saxophon next friday and play with You?« Der wendete sich robotergleich um und betrachtete ihn mit unbeweglichen, wie festgeschraubten schwarzen Augen. Dann antwortete er in schönstem Latinoenglisch »Ningún prrroblem« und ging dann ohne ein weiteres Wort zurück zur Bühne. Ein paar Meter von ihm entfernt unterhielt die Sängerin sich angeregt mit einem Glatzkopf, sich selbst immer wieder durch ein, wie Hans meinte, leicht ordinär grundiertes Lachen unterbrechend, während sie Hans dabei provozierend offen anschaute. Plötzlich brach sie das Gespräch mit dem Mann ab und kam direkt auf ihn zu, um dann doch an ihm vorbei zur Toilette zu gehen. Aufgeregt wie ein Pennäler stellte er sich ihr in den Weg. Aber noch, bevor er etwas sagen konnte, lächelte sie ihn an und fragte: »Si?«
Halb Spanisch halb Englisch stotterte er: »Puedo? The next friday? I would like to bring my saxophone with me and play some sets with you. Lo puedo. I am not a professional, but a well known musician. Al otro lado. At the west side.« »And what is Your profesion?« »Journalist«, antwortete er brav. Mit milder Ironie sagte sie: »Si, esta bien, periodista, kommen Sie nächsten Freitag.«
*
»Er ist also wieder da.«
Mehr hatte Nelson nicht über das Wiederauftauchen von Mario gesagt.
Nelson Silva und Mario Lavelli waren nur einmal aufeinandergetroffen. Auf der Versammlung in der Technischen Universität von Santiago de Chile und Nelson hatte Mario damals sicher nicht wahrgenommen.
Nelson Silva war Peruaner. Er stammte aus der Gegend um Ayacucho. Dort war er zur Schule und später auf die Universität gegangen. Wie viele seiner Kommilitonen war er dabei mit dem sendero