Die neue Abteilung hatte eine beachtliche Größe. Trotz des jüngsten Abbaus von Personal war dessen Anzahl immer noch hoch, stellte Schober verwundert fest. Selbstverständlich gab es mehrere product manager, denn es gab einige wichtige Produkte und Produktgruppen. Dazu gesellten sich Verantwortliche für den Vertrieb in ausgewählten Regionen, die natürlich mehrere Untergebene hatten, unter anderem auch regionale Vertreter, die regelmäßig Kunden besuchten. Es gab einen Chef der Logistik, der hatte den Kundenservice zur Auftragsbearbeitung, viele fleißige Damen, unter seiner Leitung. Es gab controlling, man musste schließlich wissen, wie viel, oder wenig, man verdient hatte. Zur Sicherung der Zukunft und des Wachstums waren für dominante Produkte weitere promovierte Herren vorhanden. Sie kümmerten sich um Kontakte zu Universitäten, lasen die Fachpresse und versuchten zu verstehen, was die Konkurrenz trieb.
Dr. Kammerl, ein Tiroler, war von Hohlenberger in die Abteilung empfohlen worden. Er sollte Brücken zu neuen Produkten und Wachstumsregionen schlagen, denn er hatte einige Jahre in New York verbracht. Dies und die Promotion an der Universität, die auch Hohlenberger besucht hatte, waren entscheidende Kriterien beim Nachweis von Kammerls Qualifikation. Trotzdem schien Kammerl ein wenig frustriert. Schon beim ersten Gespräch mit Schober äußerte er den verräterischen Satz: 'Ich fühle mich fast schon wie eine Hofschranze, mit dem wirklichen Verkauf, der realen Markt oder echten Neuerungen, hab ich nichts zu tun. Nur wenn vom Vorstand Fragen kommen, muss ich sofort hüpfen!'
Kammerl erklärte Schober auch das Problem mit den Kosten: "Unser Chef Lübmüller braucht dringend mehr Umsatz. Die Zahl unserer Mitarbeiter führt inzwischen zu sehr beachtlichen overheads. Die Preise bekommt der Vertrieb nicht hoch, da hat die Konkurrenz etwas dagegen. Also hilft nur eine neue Anlage in neuen Regionen mit mehr Produktion und verkauften Mengen. Nur das führt dazu, dass künftig Personal- und Sachkosten wieder zum Umsatz passen." Er ergänzte mit leicht gedämpfter Stimme: "Eigentlich müsste der Lübmüller auch mich in den Vorruhestand schicken." Schober verzichtete auf einen Kommentar, es war definitiv zu früh, um Positionen zu beziehen oder eine eigene Meinung zu haben. Abwarten, Signale erkennen, merken woher und wohin der Wind weht und dann mitziehen, das war sicheres agieren.
Lübmüller hatte die Verantwortung für den Bereich schon sehr lange inne und kannte seinen Markt. Eine Strafe des Kartellamtes wegen regionalen Absprachen mit der Konkurrenz hatte allerdings seine Selbstsicherheit sehr erschüttert. Er reiste kaum mehr und hatte seinen Untergebenen viele Aufgaben übertragen. Seine spirituelle Sicherheit richtete er auf, indem er sich intensiv mit der Bibel beschäftigte und den Status eines Laienpredigers erwarb. Wie Schober bei Mittagessen erfuhr, verabredeten sich mehrere seiner Kollegen zum sonntäglichen Besuch in Lübmüllers Kirche. Sie versprachen sich davon nicht nur spirituelle Vorteile. Dies galt besonders für Nußbaum, der ein Produkt mit Nischenanwendungen auf eine sehr eigene Art vertrat. Auch Schober dachte kurz über eine Teilnahme am Gottesdienst nach. Das war zwar eine Art Sekte, aber eben doch eine christliche. Er würde dafür leicht Absolution erhalten, da der Besuch dem beruflichen Aufstieg galt und eben nicht abtrünnigen Glauben zeigte. Der Zweck heiligt die Mittel. Zunächst verschob er die Entscheidung.
Wie Nußbaum agierte, hatte Schober schon am ersten Tag mitbekommen. Am frühen Nachmittag von einer Dienstreise zurückgekommen, hatte Nußbaum allen Kollegen des Großraumbüros einen Vortrag über Verkaufstechnik gehalten und einen Liefervertrag über 500 Tonnen mit dem bislang sehr zurückhaltenden Abnehmer Moltena durch die Luft gewedelt.
"Man muss einfach nur klar und deutlich die Vorteile unserer Technologie präsentieren, dann klappt das mit der Belieferung, selbst wenn wir beim Kilopreis nicht der Günstigste sind", dozierte Nußbaum. "Erst seit dieser Vertrag unterzeichnet ist, gibt es für Moltena Details zu unserer Verfahrenstechnologie, nur nach dieser Unterschrift darf unsere Anwendungstechnik demnächst Ratschläge zur Verbesserung des Verfahrens weitergeben!" In diesem Stil ging es eine ganze Weile weiter. Nußbaum wollte alle an seinem Erfolg teilhaben lassen. Erst nach etwa zehn Minuten brachte Fengel ein Telex und hielt es Nußbaum hin.
"Das ist vor einer Stunde von Deinem 'Kunden' Moltena angekommen", meinte er trocken. "Ich glaube, der storniert den Auftrag."
Für wenige Tage wurde Nußbaum etwas stiller. Die Pläne zur weltweiten Vermarktung seines Produktes wurden geringfügig modifiziert, Moltena kam nicht mehr darin vor. Schober fragte Fengel nach dem Verfahren, von dem Nußbaum so geschwärmt hatte. Fengel zögerte erst, dann meinte er vorsichtig: "Nach meinem Kenntnisstand handelt es sich um eine nicht patentfähige Verfahrensvariante. Deshalb möchte Nußbaum einen Liefervertrag mit Firmen unterzeichnen und erst dann über die Details des Verfahrens und die möglichen Vorteile und Einsparungen informieren. Diese Katze im Sack kauft aber keiner. Daher versucht er die Kunden durch intensives Reden zu überzeugen. Dem Einkäufer von Moltena ging das wohl einfach auf die Nerven, der dachte, mit der Unterschrift bekomme ich den lästigen Menschen erst mal weg, das Storno schick ich ihm hinterher."
In der Forschungsabteilung von Professor Krauth herrschte gespannte Ruhe, das BMFT-Projekt war nach fast drei Jahren offiziell beendet, es gab noch eine inoffizielle Verlängerung, denn Krauth hatte bei Unterholzer angedeutet, einige weitere, aber attraktive Varianten noch prüfen zu müssen. Entlassungen würde es nicht geben, eine Zerschlagung der Arbeitsgruppen war dagegen sehr wahrscheinlich. Deshalb wurden zwar weiterhin Reaktionen und Modifikationen geprüft, aber alles lief ohne Schwung, das Ende war abzusehen. Man wartete auf die Versetzungen. Krauth hatte es Hofmeister überlassen, den Abschlussbericht für das BMFT zu schreiben. Hofmeister hatte nachgefragt, wie umfangreich das Werk werden müsse und zu seinem Erstaunen erfahren, zur Dokumentation genüge eine Seite Text. Jetzt brütete er über dieser Zusammenfassung. Viel war versucht worden, es gab meterweise Ordner mit Berichten und Daten, ein paar Patente und eine Zusammenfassung fürs Ministerium auf zwei Seiten. Eigentlich dürftig, im Angesicht der verbratenen 40 Millionen. Aber der Krauth sagte ja auch immer: 'Forschung ist Risiko'. Hofmeister schob die Tastatur zur Seite. Für heute war er bedient.
Hofmeister griff ins Posteingangsfach und zog die Hauszeitschrift heraus. Beim Blättern fand er ein Foto von Schober. Ziemlich gut zu erkennen in der ersten Reihe unter den 'interessierten Zuhörern' der Veranstaltung des Vorstandes zur grünen Chemie, der 'sanften Chemie der Zukunft'. Hofmeister dachte, der Schober, der hatte es richtig gemacht. Hat rechtzeitig die Kurve bekommen und ist auf dem Weg nach oben. Warum hab ich nur Spaß an chemischen Reaktionen? Mit guter Chemie bekommt man einen Händedruck vom Chef. Mehr nicht. Er hatte nicht mal den bekommen. Na gut, das doofe Thema erlaubte einfach nichts Besseres.
Schober begann seine Kundenbesuche mit Seeberger, der unter Müller y Gonzales, dem Chef des europaweiten Vertriebs für key accounts zuständig war. Müller hatte Schober zu verstehen gegeben, er habe zu wenig Zeit, um sich um Schobers Einführung in die Arbeitsweise zu kümmern, Seeberger sei dagegen verfügbar. Schober dachte sich seinen Teil, er beschloss Müller y Gonzales bei passender Gelegenheit seine Grenzen vorzuführen. Der würde schon noch sehen, einen Schober schiebt man nicht nach hinten!
Die Gelegenheit sich Marktkenntnisse zu verschaffen war günstig. Es gab keine Preise zu verhandeln, der Kontrakt war für zwei Jahre abgeschlossen und lief noch, letztlich war es ein Höflichkeitsbesuch zur Halbzeit. Man traf den Einkäufer Dr. Telch in entspannter Atmosphäre. Dieser fiel durch seine Vorliebe für schmutzige Witze auf, auf dem Niveau von: "Geht eine Frau zum Arzt ..." Schober gefiel das. Er steuerte selbst aus seinem Fundus einen Witz bei:
"Da verunglücken vier Nonnen mit dem Auto. Alle tot. Sie kommen zum Himmelstor und Petrus fragt sie nach ihren Sünden seit der letzten Beichte. Sagt die erste Nonne: "Petrus, ich habe unserem Pater beim Duschen zugesehen und fand seinen Penis so schrecklich interessant!" Sagt Petrus: "Meine Tochter, bitte benetze Deine Augen mit Weihwasser aus dieser Schale, und bete drei Vaterunser, es sei Dir verziehen!"
Die zweite Nonne erklärt: "Auch ich habe gesündigt, Vater! ich habe den Penis unseres Paters mit der Hand berührt und geknetet!" Sagt Petrus: "Das ist keine so schwere Sünde, meine Tochter. Wasche Deine Hand in Weihwasser und bete drei Vaterunser und vier Ave Maria, und es sei Dir verziehen!"
Da drängt sich die vierte Nonne vor. Petrus sieht sie an und fragt: "Warum so