Sein Blick wird von einem bildhübschen Mädchen eingefangen, dass ihm genau gegenüber sitzt und ununterbrochen in ein pinkfarbenes Handy redet. Türkisch, er versteht kein Wort. Sie hat pechschwarzes Haar, dass sie ziemlich chaotisch hochgesteckt hat und dass von einem rosa Stirnband so gehalten wird. Sie ist stark geschminkt, besonders die Augen und ihre hellblauen Jeans sind so eng, dass er sich wirklich fragt, wie sie da wohl hineingekommen ist. Er schätzt sie auf vierzehn. Die war noch nicht mal geboren, als es noch Ost und West gab.
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Carla Weißensee ist bereits zu Hause. Sie fühlt sich nicht gut und so wurde ihr der Tag in der Firma zur Hölle. Sie kann ihr Unwohlsein gar nicht genau beschreiben. Sie friert, fühlt sich schwach und ist müde, zum Glück tut ihr nichts weh. Am liebsten würde sie ins Bett kriechen aber da ist noch die Verabredung am Abend und außerdem will sie ihre Eltern anrufen.
Die sind vor wenigen Tagen in die Berge gefahren, wandern, wie sie es seit über fünfzig Jahren tun. Carla erinnert sich gern an die Zeit, wo sie als kleines Mädchen immer zwischen den Eltern laufen musste, Mama vorne und Papa hinter ihr. Nie fühlte sie sich geborgener, nie spürte sie mehr Liebe und Zuwendung. Wenn es den Eltern für ihre einzige Tochter zu schwierig erschien, wurde sie auch mal getragen. Anfangs ließ sie sich das noch gefallen aber als sie älter wurde, so mit neun oder zehn Jahren, wollte sie nur noch alleine laufen. Ihr Papa war natürlich trotzdem immer in ihrer Nähe, besonders als es dann auch auf steilere Wege ging. Mit zwölf Jahren hatte sie bereits die Gipfel von über zwanzig Dreitausendern in den Tiroler Alpen bestiegen. Dabei gab es Pfade, die über Klettersteige oder Leitern führten. Sie liefen dann immer gesichert am Seil und sie musste einen gelben Helm tragen, der sie drückte und an den Haaren ziepte. Einige Male waren sie nur zu zweit unterwegs, Mama hatte sich die Tour nicht zugetraut. Carla war immer sehr stolz, wenn sie am Gipfelkreuz standen, sich in das Buch einschrieben und zuletzt noch ein Foto machten. Und ihr Papa war stolz auf sie, auf seine Tochter. Es war damals noch etwas besonderes, als junges Mädchen in diese Domäne der Männer einzudringen. Sie lernte sehr schnell, dass in dieser Welt des Hochgebirges eine reizvolle, ganz spezielle Atmosphäre herrschte, die nur durch die einzigartige Natur vorgegeben schien, ganz anders als in ihrer gewöhnlichen Alltagswelt, in der sie nie diese Art von Freiheit empfinden konnte. Alle, die man hier traf waren sich irgendwie ähnlich, hatten die gleichen Motive und die gleichen Geschichten erlebt. Man konnte niemandem ansehen, welcher Schicht er angehörte, ob er nun Chef oder Mitbearbeiter war. Jeder duzte jeden, und es gab keinerlei Standesdünkel. Die Hütten, in denen sie übernachteten, waren einfach aber für alle gleich. Duschen und Toiletten wurden von vielen benutzt, das war normal. Alles wirkt in ihrer Erinnerung sehr harmonisch, friedlich und gemütlich. Abends saßen sie zusammen, die Männer tranken Bier oder Wein, und besonders gefiel es ihr, wenn welche dabei waren, die Gitarre oder Harmonika spielen konnten. Dann wurde es oft spät, irgendwer stimmte ein Lied an und dann sangen die anderen mit. Noch heute kennt sie fast alle Texte auswendig. Carla erlebte eine traumhafte Kindheit, nicht nur wegen der Bergtouren.
Daraus resultiert auch ihr liebevolles Verhältnis zu ihren Eltern. Sie liebt ihren Vater, weil er sie immer wie ein Mädchen und später wie eine Frau behandelt hat. Er hat ihr nie das Gefühl gegeben, dass er womöglich lieber einen Sohn gehabt hätte. Die Liebe zu ihrer Mutter funktioniert völlig anders. Sie ist die logische Folge der absoluten Ähnlichkeit zwischen ihnen. Nicht nur die Ähnlichkeit, die jeder sehen kann. Es sind die Bewegungen, die kleinen Gesten. Meist vertreten sie nicht nur gleiche Meinungen, sie formulieren sie auch mit den gleichen Worten und einer identischen Mimik. Sie sind in einer Art gleich, dass sie auch Geschwister sein könnten. Sie genießt es, bei ihren Eltern zu sein. Sie kann sich an keinen Streit zwischen den beiden erinnern. Wenn es je einen gegeben hat, haben sie ihn perfekt vor ihr versteckt.
Ihre Mutter kommt aus einer alten adligen Familie, da kann man vielleicht solche Charakterzüge erwarten. Dass auch ihr Papa fast aristokratische Eigenarten verkörpert, lässt sich zumindest nicht durch seine Wurzeln erklären. Er entstammt einer brandenburgischen Bürgerfamilie. Sein Vater war Lehrer für Geographie und Geschichte an der 1. Städtischen Oberschule für Jungen in Potsdam, und er war Halbjude. 1942 zog die Familie nach Innsbruck. Der Vater bekam eine Anstellung als Hilfsdozent an der Universität. Und obwohl der berühmte Österreicher sein Heimatland längst in sein Großdeutsches Reich eingegliedert hatte, konnte sich die Familie Weißensee dem zuletzt unerträglich gewordenen Druck durch die Nationalsozialisten, wie er an der Potsdamer Schule herrschte, entziehen. Carlas Vater war damals 5 Jahre alt und wurde ein Jahr später in Innsbruck eingeschult. Er hat nie viel über diese Zeit gesprochen. Als Carla einmal alleine zu Hause war, hat sie im Schreibtisch ihres Vaters herumgestöbert, auf der neugierigen Suche nach irgendwas. Dabei entdeckte sie in einer kleinen Schachtel einige alte Fotografien. Auf einem der Fotos saß ein kleiner Junge auf dem Schoß eines streng in die Kamera blickenden Mannes mit einem schwarzen Seelöwenbart in einem dunklen Anzug. Er machte ihr Angst. Ein Schwarzweißbild, das an den Ecken schon helle Flecken hatte. Auf der Rückseite stand ein handgeschriebener Text in einer Schrift, die sie damals nicht lesen konnte, nur die Jahreszahl: 1944. Da musste er 7 Jahre alt gewesen sein. Sie hat nie nachgefragt aus Furcht, sie würde sich und ihre Neugier verraten.
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Carla bereitet sich einen Tee zu, wenigstens etwas Gesundes, denkt sie sich. Sie kann das Gedruckte auf dem Teebeutel nicht erkennen, da sie ihre Brille im Büro vergessen hat. Es entspricht ihrer Eitelkeit, dass sie die Brille nicht permanent trägt, sondern immer noch versucht, ohne sie zurechtzukommen, schließlich wird sie im nächsten Jahr fünfzig. Sie fühlt sich bei diesem Gedanken aber gut, im Kopf will sie gar nicht jünger sein. Und körperlich? Na ja, sie hält seit Jahren ihr Gewicht und trägt immer noch Konfektionsgröße 40. Trotzdem nimmt sie sich immer wieder vor, öfter in die Berge zu gehen, wandern, Ski fahren oder radeln mit dem Mountainbike. Seit sie in Berlin lebt, ist das viel zu kurz gekommen. Das bisschen Jogging alle zwei Wochen bringt nichts und macht auch keinen rechten Spaß, bei dem ewig schlechten Wetter und der allgegenwärtigen Hundescheiße. Vielleicht sollte sie sich doch dieser Nordic-Walking-Gruppe in ihrer Firma anschließen? Wenn sie nur darüber nachdenkt, muss sie grinsen. In den Bergen mit Stöcken zu laufen ist für sie normal. Im Flachland aber findet sie es einfach nur albern. Sollte man nicht froh sein, keinen Stock zu benötigen?
Carla hat sich umgezogen, rutscht auf ihrem Lieblingssessel so lange hin und her, bis sie die richtige Position gefunden hat und sucht auf dem Display ihres Telefons nach der Handynummer von Bruno. Er geht sofort ran und scheint sich zu freuen, dass sie anruft. Die Freude weicht aber ganz schnell der Enttäuschung, als er hört, dass aus ihrer Verabredung heute nichts wird.
"Bruno, sei bitte nicht sauer aber ich fühle mich wirklich nicht. Ich werde früh schlafen gehen. Vielleicht morgen. Ich kann uns was kochen, wenn du willst. Und der Film läuft noch die ganze nächste Woche."
Bruno ist angefressen, das spürt sie, besonders als sie es ablehnt, dass er sie besucht, um den Krankenpfleger zu spielen. Das ist so ein Punkt, der sie nervt und wo sie immer wieder in Zweifel gerät, ob das Verhältnis zwischen ihnen eigentlich das ist, was sie sich wünscht. Bruno ist sicherlich ein Pfundskerl, im wahrsten Sinne des Wortes. Er ist zuverlässig und hilfsbereit, wo immer es geht. Aber gerade das erdrückt sie manchmal, dieses immer-für-sie-da-sein, diese übertriebene Fürsorge. Ob es am Altersunterschied liegt? Immerhin ist er über zehn Jahre länger auf dieser Welt als sie. Wenn sie zusammen sind, merkt sie nichts davon. Dazu ist er zu selbstbewusst, ohne eingebildet zu wirken und hat sich darüber hinaus etwas jungenhaftes, verrücktes bewahrt, trotz seiner 60 Jahre. Er ist geprägt durch seine Erziehung, seine Schul- und Studienzeit und eben seinem Leben in diesem Nachkriegsberlin. Natürlich hat er sich in den Jahren auch angepasst, steht aber immer noch zu seinen alten Idealen, im Gegensatz zu vielen seiner früheren Freunde, die die roten Fahnen gegen die Lifestyle-Symbole der Bildungsbürger eingetauscht haben, denen der wichtigste Rote Stern inzwischen der des geschätzten Mailänder Mineralwassers ist. Er hingegen ist noch nie den Oberschlauen gefolgt, bis heute nicht, hat immer seinen eigenen Kopf benutzt, braucht deshalb heute