Was zu beweisen wäre. Jürgen Heller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Heller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847679462
Скачать книгу
hab nie verstanden, wie das funktioniert, es muss eine Art Minilötkolben gewesen sein. Auf jeden Fall konnte man die reparierten Stellen hinterher immer noch sehen. Aber "laufen" konnten sie nicht mehr, die Maschen.

      Der Zeremonie im Bad ist jeden Morgen die gleiche, erst Zähne putzen, dann duschen. Unter den warmen Wasserstrahlen entspannt er sich und ist zum ersten Mal an diesem Tag zufrieden. Mit einem Stück sehr grüner, von Hand gefertigter Seife, das ihm irgendwer zum letzten Geburtstag geschenkt haben muss, schäumt er sich ein. Dann lässt er warmes Wasser über seinen Rücken laufen.

       Ob die Seife eventuell ein Geschenk von Carla ist? Könnte sein, würde auf jeden Fall zu ihr passen. Muss ich mal lobend erwähnen, kann ich ein paar Pluspunkte sammeln.

      Er kann in diesem Augenblick nicht mal ahnen, wie viele Pluspunkte er demnächst brauchen wird. Carla ist seine große Liebe, zumindest hätte er das gerne. Sie haben sich in Tirol beim Skifahren kennen gelernt, besser gesagt abends in einem kleinen Restaurant. Alle Plätze waren besetzt, und er musste am Tresen Platz nehmen. Sie saß mit Freunden an einem Tisch für 4 Personen und war ihm zunächst nicht weiter aufgefallen. Dann hörte er zum ersten Mal diesen Namen: Carla. Als die Freunde zahlten und gingen, beobachtete er, dass sie sitzen blieb. Wenig später stand sie auf, kam direkt auf ihn zu und sprach ihn an. An den Tagen danach trafen sie sich öfter und sie erzählte ganz viel von sich und ihrer Familie. Ihre Mutter ist Italienerin, Tochter einer alteingesessenen Familie aus Caldaro, seit Generationen Winzer und Besitzer eines ziemlich kleinen aber unter Kennern sehr geschätzten Weingutes. Der Vater kommt aus Innsbruck, ist aber in Potsdam geboren. Als er fünf war, hatten seine Eltern Deutschland verlassen und in der Tiroler Hauptstadt eine neue Heimat gefunden. Das ist jetzt über 60 Jahre her. Noch immer besitzen Carlas Eltern eine Stadtwohnung in Innsbruck, ganz in der Nähe der alten Hungerburgbahn, mit Blick auf den Inn. Sie verbringen fast das ganze Jahr hier. Die Lage ist einfach ideal. In einer halben Stunde ist man mitten in den Bergen, in gut zwei Stunden in Carlas Heimat, am Kalterer See. Dazu hat man den Flughafen und den Hauptbahnhof in unmittelbarer Nähe.

      Bruno selbst hat seit Jahren immer wieder seinen Urlaub hier verbracht. Er liebt diese Stadt Innsbruck, die Berge, im Winter, wie im Sommer und ganz besonders sein Stubaital. Und nun kommt noch Carla dazu. Er muss sich ernsthaft fragen, was ihn immer noch in Berlin festhält. Und Carla ist schön, wunderschön findet er. Sie ist fast so groß wie er, hat dunkelblondes Haar und dunkle Augen, die ihn ununterbrochen ansehen, wenn sie mit ihm spricht. Sie benutzt so gut wie kein make up, lediglich die Augen betont sie mit einem Lidstrich und ihre Lippen zeigen einen matten Schimmer in einem undefinierbaren Rot. Er liebt ihre leicht gebräunten, großen Hände mit den schlanken Fingern und den hellen unlackierten Nägeln.

      Er stellt sich vor, sie würde ihn damit berühren und steht immer noch unter der Dusche. Dann hat er den kurzen kalten Schauer überstanden und trocknet sich ab. In der sauberen Wäsche fühlt er sich nun richtig wohl. Er holt den Rasierer aus dem Spiegelschrank und sieht sich dann zum ersten Mal an diesem Vormittag. Es ist schon deprimierend, wie sehr man sich in den Jahren verändert. Seine Lieblingsschwester Anette widerspricht zwar immer und meint, er rede sich selber schlecht und er solle zu seinem Alter stehen und in Wirklichkeit sehe er jünger aus als er sei und...und...und. Aber Anette sieht vieles ganz anders, deshalb ja Lieblingsschwester, und sie ist seine einzige Schwester.

      Er macht sich jedenfalls keine Illusionen. Aus dem markanten Gesicht, mit den großen Augen seiner Mutter, den schmalen Lippen seines Vaters, ist ein doch ein ziemlich anderes Antlitz geworden. Falten kräuseln sich unter den Augen und die hängenden Mundwinkel lassen die weichlichen Wangen noch trauriger wirken. Von den einst längeren Haaren hat er sich schon lange verabschiedet. Er hasst es, wenn Männer mit schütterem Haar weiter auf Heavy Metal machen, wenn möglich noch mit Zopf. Da zieht er es vor, seinen Restbestand an Haaren in zwei Zentimeter langer Restpracht zu pflegen. Sieht nicht nur besser aus, wie er findet, ist auch viel praktischer. Außerdem kann man eine Mütze aufsetzen, ohne eine hingefönte Frisur darunter zu verhunzen. Früher hat er keine Mützen getragen.

      Er zieht sich seine Lieblingsjeans an und ein ziemlich neues Sweatshirt, bisher nur einmal getragen. Da steht er nun in der Küche, geduscht, mit frischer Kleidung und einem schwarzen Kaffee in der Linken. Sein Gute-Laune-Barometer steigt. Er überlegt, wie er am besten den heutigen Tag gestalten soll. Nach dem Frühstück wird er etwas einkaufen für das Wochenende, dann vielleicht kurz bei seiner Schwester vorbeischauen. Den Freitag Nachmittag hat er wie immer für seine Mutter reserviert. Abends ist er mit Carla verabredet. Sie will mit ihm ins Kino. In irgendeinem Bezirkskino läuft "Cinema Paradiso" mit irgendeinem Poiret, oder so ähnlich. Er kennt den Film nicht, aber Carla hat ihm schon oft davon erzählt. Was heißt erzählt? Sie schwärmt geradezu.

       * * *

       Sonntag, 27. März 1955

       Ich bin total aufgeregt und glücklich. Habe über meinen Vater die Verbindung zu Prof. R.v.C. hergestellt. Heute ist Sonntag und ich werde ihn treffen. Er hat mich zum Kaffee zu sich nach Hause eingeladen. Er kann bestimmt etwas für mich tun. Ich muss unbedingt die Zulassung zum Studium am Geologischen Institut bekommen. Habe recherchiert, er ist in Brixen zur Welt gekommen, also ein engerer Landsmann von mir. Das kann mir vielleicht helfen.

       * * *

      2

      Bruno Hallstein blinzelt gegen das grelle Sonnenlicht und versucht auf dem Fahrplan der BVG zu ergründen, wie er denn nun von hier am besten nach Hause kommt. Er fährt nicht oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln und weiß nicht mal genau, was ein Fahrschein kostet. Seit seine Mutter hier in Zehlendorf in einem kombinierten Senioren- und Pflegeheim untergebracht ist, muss er immer einmal quer durch die Stadt von Tegel bis Onkel-Toms-Hütte. Mit dem Auto ganz einfach, da fährt er den Weg im Schlaf, aber so? Egal, er will das Auto heute stehen lassen und muss nun da durch. Im Prinzip ist es auch nicht weiter schwer, mit der U3 bis Bahnhof Spichernstraße, von hier mit der U9 bis Leopoldplatz und dann in die U6 nach Alt-Tegel. Den Rest kann er zu Fuß machen. Wie er so in der U-Bahn steht, entdeckt er direkt über sich den Streckenplan. Er schaut ihn noch einmal genauer an und beschließt, einen anderen Weg zu nehmen. Er bleibt in der U3 bis Wittenbergplatz, steigt dann in die U1 Richtung Warschauer Straße und fährt bis Hallesches Tor. Der Grund für den spontanen Wechsel liegt in der Vergangenheit. Ihm ist nämlich eingefallen, dass er diese Strecke während seines Studiums fast täglich gefahren ist. Es ist eine der Linien, die durch den Ostteil der Stadt führt. Zu Zeiten der Berliner Mauer hielten die Züge aber nicht an den Ostberliner Stationen. Mit verlangsamter Fahrt durchfuhren sie dunkle Geisterbahnhöfe und manchmal konnte man im Vorbeifahren die bewaffneten Grenzer sehen. An einem Bahnhof hielt die Bahn aber doch: Friedrichstraße, Transitübergang für Bahnreisende zwischen Ost- und Westberlin. Genau das war das besondere an diesem Bahnhof, hier durfte man aus- und einsteigen. Das nutzten auch Nicht-Transitreisende, beispielsweise arme Westberliner Studenten, um sich an eigens dafür ausgestatteten Bahnhof-Kiosks Zigaretten und Schnaps zu kaufen, natürlich Westware. Man musste auch in DM bezahlen. Darin steckte ja der Sinn für die DDR. Aber es war deutlich billiger, als in den Westberliner Geschäften. Devisenbeschaffung für den Osten mahnten die Westberliner Zeitungen und Politiker. Den meisten war es egal, Hauptsache billig. Auch damals war Geiz schon geil. Einer seiner Kommilitonen war der Sohn eines Bezirksbürgermeisters, selbst der kaufte dort ein. In der Morgenpost regte er sich darüber auf und abends dann, Peter Stuyvesandt, zwei Stangen. Man musste aber auch aufpassen. Wenn man Pech hatte und der Zug wieder im Westen das erste Mal hielt, konnte es sein, dass der Westberliner Zoll Kontrollen durchführte. Bruno ist zum Glück nie erwischt worden.

       Mein Gott, ist das alles lange her. Wie viele Flaschen Ballantines werden wir wohl damals geschmuggelt haben? Und erst die Zigaretten, stangenweise Roth Händle und Gaulloises ohne Filter...

      Nun leben sie wieder, die ehemals toten Bahnhöfe. STADTMITTE, Französische Strasse, oranienburger tor. Die Züge halten ganz normal, die Menschen steigen ein und aus und die Bahnhöfe selber sind schön herausgeputzt. Im pseudohistorischen Gewand präsentieren sie ein Stück Geschichte. Die meisten