„Und diese, nun sagen wir „außergewöhnliche Erscheinung“ halten sie für bedrohlich?“ Verena wählte ihre Worte und den Tonfall äußerst bedacht. Sie wollte der Gräfin nicht den Eindruck erwecken, sie glaube ihr nicht.
„Ja, das tue ich. Zweifellos eine negative Energie. Schließlich sind sie plündernd, mordend durch unser Land gezogen, haben alles niedergebrannt, hinterließen Tod, Leid und Verzweiflung. Dieser Erscheinung zu begegnen hat sicherlich keine Vorteile nicht einmal für eine Verena Ritter.“ Die ernst gemeinte Warnung war nicht zu überhören.
Für einige Sekunden hielten ihre Augen aneinander fest und Verena wusste, dass es die Gräfin von Stegersbach nicht böse oder abfällig meinte.
„Gibt es noch andere Begebenheiten hier, die ihnen Angst machen?“ Verena zog es vor nicht weiter auf das Thema einzugehen.
„Nein“, kam ohne Zögern die Antwort. „Es gibt keinen Grund sich vor anderem zu fürchten oder besser gesagt, es gibt einen Grund um sich sicher zu fühlen.“
„Ach ja, und der wäre?“
„Dieser spezielle Grund hat den Namen Gabriel. Er ist der unumstrittene Schutzgeist dieses Gemäuers. Gesehen habe ich ihn noch nicht, doch der Schutz ist oft zu bemerken. Und es gibt einige Berichte über ihn. Gabriel de Maurión war einer der ersten Herrn im Schloss Stegersbach, er war sogar jener, der aus der baufälligen Burg im Laufe seines Lebens die Grundmauern für dieses Schloss legte. Er war zwar eher Landherr als Krieger, besaß jedoch einen brillianten Verstand und war ein tiefgläubiger Christ. Und er nahm seine Pflichten sehr ernst. Er soll auch seiner Zeit voraus gewesen sein, was die Wertigkeit des Einzelnen betraf.
Nun, auf jeden Fall soll er in der kleinen Schlosskapelle an der Statue des Erzengel Gabriels geschworen haben, sein Land und die darauf leben über den Tod hinaus zu beschützen. Der rote Fleck am Fuß der Statue, die noch heute in unserer Kapelle wacht, soll von dem Blut aus seiner Hand stammen als er den Schwur besiegelte. Und wie es aussieht, ist dieser Schwur noch immer wirksam.“
„Kennen sie jemanden, der ihm bereits begegnet ist?“ Verena konnte gar nicht fassen, in welcher Schatztruhe sie hier gelandet war.
„Ja, doch sie werden wenig Erfolg haben, wenn sie um eine Unterhaltung deswegen bitten.“ Verena war jedoch weit davon entfernt, enttäuscht deswegen zu sein. Sie gab nicht so leicht auf und irgendwie war es ja auch nicht einfach gewesen die Gräfin von Stegersbach um ein vertrautes Gespräch zu gewinnen. Dass jedoch Verena im Moment seltsam erschien, wenn sie bedachte wie leicht ihr die Geschichten über die Lippen kamen. „Vielleicht sollten sie es mich versuchen lassen.“ Doch die Gräfin schüttelte nur den Kopf.
„Meine Tochter meidet so gut es geht sogar in diesen Mauern zu verweilen und wenn, dann nur am Tag. Sie spricht nicht darüber, aber solange sie ein Kind war, waren wir nie für längere Zeit in Stegersbach, was ich für meine Person immer sehr bedauert habe. Ich fühlte mich hier schon immer wohl. Doch Lydia ist sehr empfänglich für übernatürliche Erscheinungen – sie kommt damit nicht gut klar. Sie fürchtet sich. Am Anfang begriff ich gar nicht, was ihr Angst machte. Inzwischen ist es so, dass sie vorwiegend in Häusern nächtigt, die keine Vergangenheit besitzen. Doch wenn sie genauere Berichte über die außergewöhnlichen Vorkommnisse von Stegersbach haben wollen, es gibt eine Art Tagebuch, das über Generationen weiter geführt wurde. Ich kann es ihnen nachher gerne zeigen.“
Verena konnte ihr Glück fast nicht fassen. „Das wäre toll. Sie sind eine wahre Bereicherung für meine Arbeit.“
„Sind sie nun bereit für die Führung durch das geschichtsträchtige Schloss Stegersbach?“ „Was denken Sie denn?“
Und so kam es, das Verena durch unzählige Räume geführt wurde, die zum Teil noch mit der originalen Ausstattung versehen waren und einer ganzen Reihe an alten Gemälden begleiteten sie auf ihren Weg. Die Gräfin wusste nahezu zu jedem Zimmer und Bild eine kleine Geschichte. Verena konnte fühlen, wie tief verbunden die Frau mit den Mauern war, in denen sie lebte.
„So, und hier sehen sie das blaue Zimmer in dem Ottokar und Helena überaus glückliche Stunden verbrachten und so tragisch ihr Leben beendeten.“
Die Gräfin überließ Verena den Vortritt. Das Zimmer alleine war schon beeindruckend, doch nichts im Vergleich zu den Schwingungen, die Verena wahr nahm. Fasziniert sah sich Verena um und ihr Blick blieb am Spiegel hängen, der mehr zeigte, als zu erahnen war. Eine Frau saß wartend am Fenster und sah sehnsüchtig nach draußen. Ihre Konturen waren verwischt und durchscheinend doch Verena konnte deutlich das volle, dunkle, lange Haar, das in sanften Wellen über den Rücken fiel, sehen, das ihr feines Gesicht umrahmte. Ihr Kleid war gewissermaßen elegant, wenn auch einfach gearbeitet. Es war Helena und als ihr Gesicht zu strahlen begann, konnte Verena verstehen, warum Ottokar so verliebt in sie gewesen sein musste. Nur Augenblicke später fühlte Verena die Anwesenheit einer weiteren Person, die sich in einer glücklichen Umarmung mit Helena vereinte.
Dieser Anblick aus vergangener Zeit nahm Verena so gefangen, dass sie die Hand der Gräfin nicht sogleich bemerkte. Wie durch einen Schleier erfasste sie ihre Gestalt bevor sie sich vollends aus ihrer Betrachtung lösen konnte. Die Gräfin sah wissend auf ihren Gast und als Verena sich erneut umsah, war nichts ungewöhnliches mehr zu sehen.
„Die Aura in diesem Raum ist überwältigend, sie fühlen es auch.“ Die Gräfin ahnte nicht, dass Verena weit mehr empfand.
„Sie sagen es. Zweifellos haben sich die beiden sehr geliebt.“
Die Gräfin hängte sich bei Verena ein und zog sie in den langen Flur. „Kommen sie, jetzt hole ich noch den geschichtlichen Schatz aus meinem Arbeitszimmer. Und dann haben wir für heute genug von Geistern gesprochen, meinen sie nicht auch Hatty?“
Das Funkeln in den Augen der Gräfin blitzte belustigt auf als sie ihrer Haushälterin begegneten. „Sie kennen ja meine Einstellung zu diesem Thema, Gräfin. Alles nur Geschichten.“ Und dabei betrachtete sie Verena mit einem intensiven Blick. Und sie konnte sich der Eingebung nicht erwehren, dass Frau Berger im Grunde genommen ganz anders darüber dachte.
Es war nahezu halb acht als Verena dem Schloss den Rücken kehrte. Leider hatte sie nicht die Erlaubnis bekommen sich die privaten Aufzeichnungen der Schlossbewohner auszuleihen. Doch die Gräfin versicherte ihr, dass sie jederzeit willkommen war und mit ihrer privaten Telefonnummer in der Tasche machte sie sich auf den Rückweg.
„So, Kaspar und was machen wir jetzt? Nicht nur, dass wir heute keine Teile mehr für das Messgerät bekommen, in unserem Kühlschrank sieht es auch ziemlich mager aus. Hast du Lust auf Pizza?“ Die Frage war zwar rein obligatorisch doch Kaspar winselte zustimmend.
Ja, Pizza war gerade richtig, sie hatte noch eine Menge Arbeit zu erledigen und mit einem Lächeln warf sie einen kurzen Blick auf ihre Mitschriften von Schloss Stegersbach.
Kapitel 5
Am nächsten Morgen blickte Verena mit einem gequälten Gesichtsausdruck in den beschlagenen Spiegel. Sie hatte gerade einmal drei Stunden geschlafen und das war auch zu sehen. Nicht das sie das bis jetzt sonderlich gestört hatte und nebenbei erwähnt, hätte sie ja auch noch länger im Bett bleiben können, doch irgendwie freute sie sich schon auf das Frühstück.
Aufseufzend schüttelte sie den Kopf. „Kaspar, irgendwie habe ich das Gefühl, das mein Leben in nächster Zeit etwas kompliziert wird, verrückt, nicht?“ Mit einem Schwall kaltem Wasser versuchte sie mehr Leben in ihr Gesicht zu bringen.
„Lass uns gehen, bevor ich mich vor mir selbst lächerlich mache“, brummte sie schließlich und ließ knallend die Tür ins Schloss fallen.
Aufatmend sog sie die klare Morgenluft ein und fühlte sich sogleich besser und auch ihr Verstand wurde klarer. Sie musste über sich selbst lachen, zeitweise kam ihr Hirn wirklich auf die seltsamsten Eingebungen.
Schwungvoll und mit einem bärigen