Wie wir den Übergang von den Weihnachtsferien zum gewohnten Schulalltag schafften, kann ich mir heute kaum vorstellen. Es könnte zuerst eine Pause eingetreten sein, die für Rahel und mich mit Erleichterung verbunden war. Denn am Ende der Ferien waren wir ausgelaugt gewesen. Nicht das Aufeinanderliegen hatte uns gerädert, nicht die halbe Stunde, in der wir still verharrten, sondern die Abstände dazwischen. Unsere Sinne waren ständig überreizt, weil wir unablässig am Auskundschaften waren, was im Pfarrhaus geschah. Wir mussten wissen, wie viele Familienmitglieder zu Hause und womit sie beschäftigt waren. Wir waren dauernd am Kombinieren, um herauszufinden, wann sich das nächste Treffen einrichten ließ. Im Grunde genommen taten wir zwei Wochen lang nichts anderes, als miteinander auf dem Bett zu liegen und danach den nächsten günstigen Zeitpunkt abzupassen. In den Zeiträumen dazwischen waren wir unruhig und angespannt. Wir hielten das Warten, bis wir uns wieder nahe sein würden, nur schwer aus.
Als wir wieder zur Schule gehen mussten, sahen wir uns morgens nur kurz beim Frühstück. Beim Abendessen saßen wir so, dass wir uns weder berühren noch anschauen konnten. Thomas und Renate reagierten beunruhigt. Sie glaubten, wir trügen auf diese Weise einen unlösbaren Konflikt aus, womit sie ja irgendwie sogar recht hatten. Rahel und ich ahnten bereits, dass unsere Sehnsucht eine Flamme war, die plötzlich zu einer Feuersbrunst ausarten konnte, die uns aufzehren würde, wenn wir nicht auf die Flamme achteten. Wir mussten das Feuer immer wieder begrenzen, was uns Dank unseres Spiels mit der vorgetäuschten Distanz tatsächlich leichter fiel. Vielleicht ahnten wir auch, dass die Flamme unser Geist war, der uns der Verlockung und der gegenseitigen Anziehung aussetzte.
Später dachte ich oft über diese Magie in unserer Beziehung und über das Paradoxon der Sehnsucht nach. Normalerweise empfinden wir Sehnsucht, wenn ein bestimmter Mensch unerreichbar ist. Die Sehnsucht wächst zusammen mit der Unerreichbarkeit und löst sich mit zunehmender Erreichbarkeit wieder auf. Unsere Sehnsucht, Rahels und meine, war anders geartet. Sie verhielt sich genau umgekehrt. Je näher wir uns kamen, desto durchdringender wurde die Notwendigkeit, noch näher und inniger beieinander zu sein. Wenn wir dabei waren, miteinander zu verschmelzen, wuchs der Wunsch nach Nähe zum anderen ins Unendliche. Hingegen verschwand die Sehnsucht, wenn wir uns aus dem Weg gingen.
Das meine ich mit dem Paradoxon der Sehnsucht. Man glaubt, jemanden zu vermissen, den man fest in den Armen hält. Und man vermisst ihn nicht mehr, wenn man ihn nicht in die Arme nehmen kann. In jenen Weihnachtsferien, als Rahel und ich mehrmals täglich, eben so oft wir konnten, aufeinanderlagen, wuchs unsere Sehnsucht über uns hinaus, sodass wir ganz winzig wurden und darin verloren gingen. Doch genau das wollten wir, in der Sehnsucht verloren gehen. Deshalb kam es einer Rettung gleich, als die Ferien zu Ende waren und die Schule wieder begann.
In dem Zeitraum zwischen Dreikönigstag und Karfreitag praktizierten wir das Aufeinanderliegen nur noch am Wochenende und jeweils nur ein Mal. Am Freitagabend also wurde Rahel allmählich wieder erreichbarer und mein Verlangen nach ihr begann zu drängen. Wir schauten uns wieder an und setzten uns am Tisch nebeneinander. Ich bekam Herzklopfen und einen heißen Kopf, Rahels Augen wurden glasig und ihr Körpergeruch stärker. Aber wir sprachen weiterhin kein Wort miteinander. Wenn wir bis Sonntagabend durchhielten, war das Erlebnis besonders süß und schwer. An einem Wochenende im Februar fanden wir keine ruhige Lücke, in der wir hätten verschwinden können. Am Sonntagabend waren wir kurz davor durchzudrehen. Doch dann flüsterte mir Rahel ins Ohr, ich solle warten, bis alle im Bett seien.
Das Pfarrhaus war dunkel und still, als ich gegen Mitternacht zu ihr hinüberging. Natürlich trugen wir um diese Uhrzeit unsere Schlafanzüge. Dieses Zusammensein übertraf alle vorherigen. Wir trafen uns, während die anderen schliefen. Es war schon fast mit Händen zu greifen, dass wir vor der ganzen Familie ein Geheimnis hatten und dass wir alles daransetzen würden, dass es ein Geheimnis blieb. Wir waren zwar nicht nackt, aber es war doch ein ganz anderes Gefühl, dass uns nur die Schlafanzüge trennten. Das Erlebnis traf uns mit einer solchen Wucht, dass wir uns Versprechungen machten.
Rahel sagte zu mir: „In der Heiligen Nacht habe ich dir versprochen, dass du zu mir kommen kannst, wenn du mehr davon willst. Ich schwöre dir, dass das die Wahrheit ist und nichts als die Wahrheit.“
„Und ich schwöre dir, dass ich immer zu dir komme, solange ich lebe“, erwiderte ich.
Von da an trafen wir uns nur noch um Mitternacht von Sonntag auf Montag. Manchmal stelle ich mir vor, wir hätten uns an unsere Schwüre gehalten. Sonntag für Sonntag und Jahr für Jahr. Sogar in diesem Moment träume ich davon, wir würden unser Ritual immer noch auf die gleiche Weise praktizieren wie damals, vor 25 Jahren.
Drittes Kapitel
Mit den Knospen kam der Frühling. Auch Rahels Leib entsprossen die zwei kleinen Knospen, aus denen ihre Brüste werden sollten. Sie verlor kein Wort darüber, sondern wartete, bis ich sie von selbst bemerkte, die kleinen Spitzen, die sich durch ihr Nachthemd abzeichneten. Unwillkürlich streckte ich meine Hand aus und strich sanft darüber. Rahel lachte.
„Möchtest du sie sehen?“, fragte sie. Ich nickte.
Sie streifte das Nachthemd über ihren Kopf und stand nackt vor mir. Rahels Haut war fein und blass. Um die Brustwarzen war sie fast durchsichtig. Die kleinen Brüste sahen tatsächlich aus wie zarte weiße Knospen, die bald aufbrechen und zu blühen beginnen würden. Ich starrte sie an und spürte, wie mich ihr Anblick bewegte. Ich hatte eine Empfindung, die genau so blass und zart war wie Rahels Brüste, eine Empfindung, die noch heute manchmal über mich kommt. Die volle Bedeutung dieses Moments, als sich Rahel vor mir entblößte, um mir zu zeigen, dass sich ihr Körper veränderte, verstand ich damals nicht. War es der Anfang davon, dass sie aufhörte, die kleine Schwester für mich zu sein?
Sie errötete und fragte leise: „Findest du, es sieht doof aus?“
„Was soll daran doof sein?“
„Ich weiß nicht. Wie findest du sie?“
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Sie sind richtig süß. Total niedlich.“
„Gefallen sie dir?“
„Sie sind etwas ganz Besonderes und passen genau zu dir.“
Rahel kaute auf ihrer Unterlippe.
„Sag mir, ob du sie magst!“
„Oh ja! Sehr sogar! Ich möchte sie richtig anfassen.“
Rahel schüttelte den Kopf. Sie hob das Nachthemd auf und verschwand in ihrem Zimmer.
Einige Tage später, als ich von der Schule nach Hause kam, erwartete sie mich.
„Ich habe die Mens.“ Es klang so erwachsen.
„Zum ersten Mal?“ Ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Es war so klar. Sie hatte auf mich gewartet, damit es vor mir keiner erfuhr. Ich wusste ja, dass sie bis dahin noch keine Blutungen gehabt hatte. Doch sie sagte nichts, sondern zeigte mir nur eine lange Nase.
„Tut es weh? Ist es schlimm?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Freust du dich?“
Sie nickte. Dann umarmte sie mich. Ich hielt sie fest und drückte sie an mich.
„Dann freue ich mich mit dir.“
Diesmal hatte ich das Richtige gesagt, denn Rahel drückte mir schnell einen Kuss auf den Hals.
Es vergingen ein paar Tage, bis ich darüber nachzudenken begann. Ich hatte wohl verstanden, dass Rahels Brüste zu wachsen begannen und dass sie zum ersten Mal ihre Monatsblutung bekommen hatte. Aber ich hatte nicht realisiert, was das bedeutete. Es war ein merkwürdiger Moment, als ich es begriff. Er glich dem Schrecken, wenn einem einfällt, dass man etwas Wichtiges vergessen hat, und der darauffolgenden Verwunderung darüber, dass einem etwas so Wichtiges überhaupt entgangen sein konnte. Ich suchte nach einem Wort für das, was mit Rahel geschah. „Geschlechtsreif“ war alles, was mir einfiel. Ein Wort mit einem Missklang, der meine