Seltene Mädchen. Raya Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Raya Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748519669
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      Ende August 1990, kurz vor meinem sechzehnten Geburtstag, erfüllte ich mir einen lang gehegten Wunsch. Es war ein normaler Wochentag und wir mussten alle zur Schule gehen. Es sollte einer der letzten heißen Tage werden, bevor der Herbst dem Sommer den Garaus machen würde. Nach der großen Pause verließ ich die Klasse und schwänzte die letzten Unterrichtsstunden. Ich wusste, dass Thomas nicht zu Hause war, Renate aber wohl. Ich rechnete damit, dass sie im Garten auf einer Liege lag und ein Sonnenbad nahm. Esther hatte fest behauptet, dass sie den Bikini auszog, wenn sie allein war. Ich schlich ins Haus, in die obere Etage und in das Zimmer mit der besten Sicht auf ihre Sonnenliege. Ich hatte schon morgens alle Jalousien herabgelassen und schräggestellt, sodass ich bequem darunter hindurchspähen konnte. Eine Stunde lang lag sie direkt unter meinen Augen, zuerst von vorn, dann von hinten und zum Schluss wieder von vorn. Ich hielt mich zwar in Deckung, aber dass sie mich trotzdem bemerkte, war durchaus möglich. Genau das machte, zusammen mit dem Anblick ihres entblößten Geschlechts, den Bann dieser Situation aus. Noch tagelang rätselte ich daran herum, wie sie sich verhalten hätte, wenn sie mich gesehen hätte. Es gab unzählige Varianten, die ich mit einer Mischung aus Erregung und schlechtem Gewissen alle durchspielte.

      Wegen meiner erotischen Gefühle für Renate wurde meine Beziehung zu Thomas noch komplizierter. Ich verstand das alles nicht. Ich wusste nicht, dass vor allem Neid und Eifersucht im Spiel waren. Ich missgönnte Thomas die Lust, mit der Renate sein Begehren erwiderte. Insgeheim wollte ich ihm den Platz streitig machen, den sie ihm in ihrem Herzen, aber auch in ihrer Scheide einräumte. Diese Dinge durchschaute ich jedoch erst, als ich erwachsen geworden war.

      Man ist nicht das, woran man sich erinnern kann. Ich war und bin bis heute das, was ich nicht mehr sein konnte, das Kind meiner Mutter. Ich ging nicht zu ihrer Beerdigung, wohl weil ich insgeheim glaubte, dass sie noch lebte und irgendwann zurückkäme. Ich müsste nur lange genug auf sie warten. Doch hätte sie wirklich zurückkommen können? Sie hätte den Ehemann in den Armen ihrer Schwester vorgefunden. Im Pfarrhaus hätte sie sechs, mit Zarah sogar sieben statt dreier Kinder angetroffen. Mich hätte sie aufgespürt, als ich in den Anblick ihrer nackten Schwester vertieft war. In Tat und Wahrheit hatten wir Angelika die Rückkehr längst versperrt. Deshalb war ich fortan bei ihr, dort in der Unendlichkeit. Doch mich an diesen Zustand zu erinnern, war mir immer unmöglich, damals wie heute.

      Zweites Kapitel

      Die Vorweihnachtszeit ertrug ich nicht. Niemand im Pfarrhaus ertrug die Vorweihnachtszeit. Die Beklemmung wuchs von einem Adventssonntag zum nächsten. Vom Heiligen Abend bis zur Neujahrsnacht fehlten nur noch sieben Tage. Genau eine Woche. Jedes Jahr kehrte diese Nacht zurück. Die Nacht, in der der katastrophale Autounfall geschehen war. Trotzdem, oder gerade deswegen, gestalteten wir die Vorweihnachtszeit so festlich wie möglich und besonders an den Adventssonntagen rückten wir alle näher zusammen. Gemeinsam schmückten wir das ganze Pfarrhaus mit Zweigen von Stechpalme, Efeu und Weißtanne. Überall hingen Lichterketten und in den Fenstern große, rote Sterne, die von einer Glühbirne im Innern erleuchtet wurden. Wir bastelten wie die Verrückten und backten Unmengen von Weihnachtplätzchen. So versuchten wir, die bösen Geister zu vertreiben. Ich kann mich nicht an die verschiedenen Jahre oder an einzelne Tage erinnern, sondern nur an Beklemmung und Betriebsamkeit als Ganzes. Die einzige Ausnahme ist der 2. Dezember 1990.

      Nach dem Mittagessen fragten Thomas und Renate, ob jemand von uns Lust auf einen Sonntagsspaziergang habe. Esther, Jakob, Mirjam und Benjamin redeten sich heraus, sie müssten an ihren Weihnachtsgeschenken weiterarbeiten. In Wirklichkeit war es ihnen zu kalt für einen Spaziergang. Rahel ging mit, weil sie an Thomas hing und umgekehrt, weil sie sein Liebling war. Ich schloss mich an, weil ich es offenbar nicht lassen konnte, Renate ein wenig den Hof zu machen, seit ich sie beim Sonnenbad beobachtet hatte.

      Thomas trug in seiner Freizeit fast immer einen Fotoapparat mit sich. Als wir nun durch den Wald stapften, kam ihm die Idee zu einem Bild. Es sollte wohl nach Hänsel und Gretel aussehen, jedenfalls sollten Rahel und ich händchenhaltend vorausgehen. Der Weg folgte einer Biegung und verlor sich zwischen den Bäumen. Der Betrachter mochte glauben, wir würden immer tiefer in den Wald hineinlaufen und nie mehr nach Hause zurückfinden. Wir fanden die Idee schrecklich und erhoben ein Protestgeschrei. Nie im Leben würden wir uns händchenhaltend ablichten lassen! Als Kompromiss boten wir an, nebeneinander zu gehen, aber ohne uns anzufassen.

      Wenn Thomas eine seiner Bildideen umsetzte, machte er das meistens sehr umständlich. Er tüftelte mit Kameraeinstellungen und Bildausschnitten herum und strapazierte unsere Geduld. Auch für dieses Hänsel-und-Gretel-Bild brauchte er eine Ewigkeit. Rahel und ich liefen auf dem Wegstück hin und her, aber Thomas war unzufrieden und bat uns ein ums andere Mal, uns doch die Hände zu reichen. Schließlich sah mir Rahel in die Augen und zuckte die Schultern. Sie hatte genug und wollte, dass ich gute Miene zum bösen Spiel machte. Dann ging es auf einmal ganz schnell. Rahel und ich entfernten uns Hand in Hand. Hinter uns hörten wir das Klicken der Kamera und die Dankesrufe von Thomas.

      Wir liefen immer weiter den Weg entlang und ließen die anderen hinter uns zurück, bis wir allein waren. Zuerst dachte ich noch darüber nach, wie ich Rahels Hand wieder loswürde, aber zugleich hatte ich Angst, sie könnte es missverstehen, denn ich wollte nicht schroff zu ihr sein. Dann fragte ich mich, ob sie meine Hand überhaupt freigeben würde, denn inzwischen hatte sie ein paar Mal nachgefasst und ihren Griff sogar noch verstärkt. Ich erschrak, als ich mir vorstellte, Rahel würde mich nie mehr loslassen. Mit der Zeit spürte ich immer deutlicher, dass sie an meiner Hand ging, weil sie an meiner Hand gehen wollte. Nach einer Weile spielte es gar keine Rolle mehr, dass es Rahel war. Außer uns gab es weit und breit niemanden, der uns hätte sehen können. Ich malte mir aus, die ganze Menschheit wäre ausgelöscht und die Welt gehöre Rahel und mir. Wir wären frei und wann immer wir wollten, würde uns die Hand des anderen trösten. Irgendwann vergaß ich, dass ich Rahel immer noch an der Hand hielt. Ich ließ sie erst wieder los, als wir zu Hause angelangten. Wir hatten die ganze Zeit weder gesprochen noch uns angesehen. Thomas und Renate waren schon eine halbe Stunde vor uns im Pfarrhaus eingetroffen.

      Den Rest des Nachmittags verbrachte ich ausgestreckt auf dem Bett. Allmählich verdüsterte sich der Tag und der Himmel hüllte sich in Finsternis. Außer mir hielt sich niemand in den oberen Stockwerken auf. Von unten drangen die Stimmen und Geräusche der anderen – mal leiser, mal lauter – zu mir herauf. Ich hatte jahrelang gewartet, jedoch ohne das Gefühl zu kennen, das sich jetzt in mir ausbreitete und mich auszufüllen begann. Ich schmeckte ihr bitteres Salz und ihre süße Säure. Sehnsucht. Das war es, was im Wald mit mir geschehen war: Die Sehnsucht hatte mich verzaubert. Später, als ich am gedeckten Tisch saß, kam Rahel und setzte sich neben mich. Während des Abendessens berührten sich unsere Füße. Nach ein paar erstarrten Sekunden streiften wir unsere Pantoffeln ab und begannen, unter dem Tisch zärtliche Zeichen auszutauschen.

      Am darauffolgenden Abend kamen wir beide barfuß zu Tisch. Wir hatten uns den Tag über nicht gesehen und uns nicht abgesprochen. Es war offensichtlich. Wir wollten beide wieder miteinander füßeln. Uns war klar, dass wir es nur im Verborgenen tun würden. Wäre es kein Geheimnis gewesen, hätte es nicht diese besondere Bedeutung gehabt. Wir suchten Intimität miteinander, über die wir nichts wussten, außer dass Dritte davon ausgeschlossen waren. Deshalb verhielten wir uns oberhalb der Tischplatte eher reservierter als sonst. Rahel unterhielt sich mit den Familienmitgliedern auf ihrer, ich mit denjenigen auf meiner Seite. Gleichzeitig konzentrierte ich mich auf Rahels Zehen, die zärtlich über meinen Rist strichen.

      Von nun an saßen wir beim Abendessen meistens nebeneinander und liebkosten uns mit den Füßen. Was das bei mir auslöste, ist schwer zu beschreiben. Ich fühlte, wie zwischen Rahel und mir ein Band entstand, das von Mal zu Mal fester wurde. Ihre Gegenwart begleitete mich durch den Tag und ich dachte dauernd an sie. Das war etwas Neues, das ich nicht kannte. Ich war noch nie verliebt gewesen und mit sexueller Erregung schien es nichts zu tun zu haben. Als ich die nackte Renate beim Sonnenbad beobachtet hatte, war mein Schwanz groß und hart geworden. Das Verlangen hatte sich erst gelegt, nachdem ich zwei oder drei Samenergüsse gehabt hatte. Sehnte ich mich hingegen nach Rahel, bekam ich keine Erektion. Es war eine viel umfassendere Empfindung, die nicht aus dem Unterleib kam. Ich fühlte die Vorfreude am ganzen Körper, außen auf der Haut und inwendig in meinen Eingeweiden