Seltene Mädchen. Raya Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Raya Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748519669
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und so stark mit Rahel verbunden sein, dass wir uns nie mehr voneinander lösen könnten.

      In den drei Wochen bis Heiligabend gingen wir uns aus dem Weg. Wir taten beinahe so, als würden wir uns nicht kennen. Die Wirkung des Füßelns auf unsere Beziehung war stark und verstörend und schüchterte uns ein. Wir redeten nicht miteinander, weil wir nicht über etwas anderes hätten reden können. Wir hätten uns Fragen stellen müssen. Was wird nach dem Füßeln kommen? Wollen wir das Steuer aus der Hand geben und es geschehen lassen? Wirst du den nächsten Schritt machen oder soll ich es tun? Hätten wir miteinander geredet, wären vielleicht auch unsere Furcht und unsere Ungeduld zur Sprache gekommen. Wir ahnten bereits, dass diese Adventszeit nur ein Aufschub des Unvermeidlichen war.

      Wir waren verstummt und verständigten uns vor allem mit den bloßen Füßen, aber nicht nur. In gewisser Weise war ich blind gewesen und jetzt passte das Bild, dass ich mir von ihr gemacht hatte, nicht mehr zu meiner Sehnsucht. Ich wollte lernen, Rahel zu sehen, und brauchte Zeit, um meinen Blick zu verändern. Wenn ich bedenke, welche Herausforderung das bedeutete, dann waren drei Wochen sehr wenig Zeit. Doch Rahel verstand, es mir leicht zu machen. Vor dem Zubettgehen verbrachte sie eine Viertelstunde im Badezimmer. Ich wartete so lange, wie sie brauchte, um sich auszuziehen, dann klopfte ich an die Badezimmertür. Sie ließ mich ein und schloss hinter mir wieder ab. Ich setzte mich auf den Rand der Badewanne und starrte sie an. Sie beendete ihre Toilette, ohne mich zu beachten. Jedes Mal, wenn ich sie musterte, brannte sich ihr Anblick tiefer in meine Netzhaut.

      Rahel war dreizehn Jahre alt und sah auch aus wie ein Mädchen ihres Alters. Das klingt banal, aber für mich war es eine Überraschung. Ihr Gesicht war noch kindlich und ähnelte dem einer Puppe. Mund, Nase und Kinn waren klein und weich. Sie hatte lange, dichte Wimpern, aber so helle dünne Augenbrauen, dass man sie fast nicht sah. Sie war kleiner als ich, denn sie hatte ihre endgültige Körpergröße noch nicht erreicht. Auch Hüfte, Taille und Brüste fehlten noch. Nur ihre Extremitäten waren schon ausgewachsen und deshalb unverhältnismäßig lang. Aber nicht nur das, es waren die Arme und Beine einer jungen Frau. Sie waren so gleichmäßig und gerade, dass ich mich zurückhalten musste, sie nicht anzufassen. Rahel war schlank und knochig. Zwischen Schultern und Brustbein ragten ihre Schlüsselbeine hervor und hinterließen darüber und darunter tiefe Rinnen. Beim Betrachten dieser Körperpartie schnürte es mir die Luft ab und mir wurde schwindelig. Auch ihre Schulterblätter hoben sich deutlich von ihrem Rücken ab, sodass ich glaubte, ihr würden bald Flügel wachsen.

      Aber am stärksten wurde mein Blick von der Stelle angezogen, wo sich unten am Becken die Innenseiten der Oberschenkel berührten. Dort war ein kleiner Hügel mit einer Kuhle darunter. Ich hatte sie manchmal beim Lesen oder beim Fernsehen beobachtet oder wenn sie nur dasaß und träumte. Dann bedeckte sie diese Stelle mit der Hand. Es schien genau die richtige Stelle zu sein, um die Hand darauf zu legen.

      Wenn Rahel fertig war, ließ sie mich allein im Badezimmer zurück. Offenbar hatte sie kein Interesse daran, mich nackt zu sehen. Doch umgekehrt schien sie zu wissen, wie wichtig es war, dass ich mich mit ihrem Körper vertraut machen konnte.

      In dieser Zeit veränderte sich ihr Geruch. Plötzlich nahm ich Ausdünstungen an ihr wahr, die vorher nicht da gewesen waren. Jetzt roch sie manchmal streng nach Schweiß und Harn, aber auch nach Angst und Kampf. Damit löste sie zwiespältige Gefühle in mir aus, so, als ob ich diesen Stoff kosten müsste und gleichzeitig fürchtete, er könnte gefährlich für mich sein. Der Geruch war so scharf und er steuerte meinen Blick auf eine Weise, dass ich eine ganz klare Vorstellung von ihrem Körper bekam. Jetzt begriff ich, warum ich dauernd die Kuhle zwischen ihren Schenkeln anstarren musste. Dort war die Stelle, die niemand berühren durfte.

      Schließlich wurde es Heiligabend. Damit rückte aber auch der Jahrestag der Todesnacht näher. Es war die erste Weihnacht mit Zarah. Renate und Thomas kamen mir dieses Jahr noch bedrückter vor als sonst, und auch die Kinder verhielten sich auffallend grüblerisch, die älteren, Esther und Jakob, ebenso wie die jüngeren, Mirjam und Benjamin. Nur Rahel und ich verfielen nicht der jährlich wiederkehrenden Trauer. Nicht, dass wir fröhlich oder gar ausgelassen gewesen wären. Aber vielleicht zog uns die Zukunft so sehr in ihren Bann, dass wir keinen Raum für die Vergangenheit mit ihren bösen Erinnerungen hatten.

      Ich kann mich an nichts von diesem Heiligabend erinnern, außer dass Rahel und ich uns als Einzige weigerten, mit zum Mitternachtsgottesdienst zu gehen. Thomas und Renate wichen der Auseinandersetzung aus und ließen uns gewähren. Vorher, bei der Bescherung, hatte Rahel mir etwas zugeraunt. Es klang so beiläufig, dass ich nicht einmal überrascht war:

      „Du bekommst mein Geschenk, sobald die anderen weg sind. Ich warte oben auf dich. Mach kein Licht.“

      Im Dunkeln fand ich den Weg in Rahels Zimmer und dort vernahm ich ihre Stimme. „Komm her und leg dich auf mich!“

      Ich näherte mich dem Bett. An ihrem Umriss erkannte ich, dass sie auf dem Rücken lag und die Arme seitlich ausgebreitet hatte. Ich tat, was sie mich geheißen hatte.

      Als die Kirchenglocke zum Vaterunser läutete, wechselten wir uns ab. Jetzt lag ich auf dem Rücken und sie bäuchlings auf mir. Als die Glocken den Segen und damit das Ende des Gottesdienstes verkündeten, sagte Rahel: „Das war der erste Teil von meinem Geschenk. Wenn du mehr davon willst, dann komm zu mir und wir tun es wieder.“

      Ich lachte und bedankte mich und Rahel lachte mit. Wir waren beide erleichtert, weil es so einfach gewesen war. Es war nichts. Kinderkram. Wir lagen in unseren Kleidern auf Rahels Bett. Einer von uns lag unten und trug das Gewicht des anderen. Nach einer Weile tauschten wir. Das war alles. Wir waren so erleichtert, weil wir nichts getan hatten, wofür wir uns schlecht fühlen mussten.

      Vor uns lagen fast zwei Wochen Weihnachtsferien. Das Haus war groß und die Familie war groß. Wir konnten immer wieder mal für eine Weile verschwinden, ohne aufzufallen. Ganz so einfach wurde es dann aber doch nicht, denn wir konnten nicht genug bekommen. Kaum war ein Schäferstündchen beendet, drängte es uns auch schon zum nächsten. Am liebsten hätten wir Tag und Nacht pausenlos aufeinandergelegen. So feierten Rahel und ich Silvester und Neujahr. Wir waren so erfüllt von dem, was wir miteinander erlebten, dass wir nicht nur unsere tote Mutter vergaßen, sondern auch alle, die am Leben waren.

      Bei uns im Pfarrhaus herrschte ein sicherer Zusammenhalt aller untereinander. Daneben gab es natürlich Beziehungen, die viel stärker und enger waren als andere. Wir verwendeten das Wort Geist, um diese Nähe zwischen einzelnen Familienmitgliedern zu bezeichnen. Zum Beispiel hatten Jakob und ich schon immer einen speziellen Geist, weil wir gleichaltrige Jungen waren und keinerlei Berührungsängste voreinander hatten.

      Seit Renate mit ihren Kindern zu uns ins Pfarrhaus gezogen war, hatte sich zwischen Esther und Mirjam eine innige Beziehung entwickelt, obwohl sie drei Jahre auseinander waren. Sie hatten jetzt auch ihren eigenen Geist.

      Damals, als Benjamin zur Welt gekommen war, hatte die vierjährige Mirjam ihr Brüderchen „adoptiert“ – von Anfang an und für immer. Sie hörte tatsächlich nie auf, ihn zu bemuttern, während Benjamin umgekehrt immer noch total auf Mirjam fixiert war. Dieser Geist war besonders mächtig.

      Rahel war ein Sonderfall, zwei Jahre jünger als Mirjam und zwei Jahre älter als Benjamin. Sie war ein typisches jüngstes Mädchen mit älterem Bruder: unabhängig, frühreif und individualistisch. Sie hatte mit unserem Vater Thomas Beck einen gemeinsamen Geist, was ihr eine starke Position in der Familie gab. Niemand glaubte, sie würde sich jemals mit einem anderen von uns verbinden.

      Bevor unsere Mutter gestorben war, hatten Rahel und ich wenige Berührungspunkte gehabt. Sie hatte mich kaum beachtet. Nun trieben wir schon seit vier Jahren Reitsport zusammen und hatten uns mit Ansgar und Astrid befreundet. Im Augenblick orientierten wir uns nicht nur aufeinander zu, sondern ebenso weg von der Familie. Man hatte uns nur zwingen müssen, Hand in Hand durch den Winterwald zu spazieren, um diesen fremdartigen magischen Geist aus seiner Flasche zu befreien.

      Sie war kein fremdes Mädchen und ich kein fremder Junge. Wir kannten weder Abstand noch Ausweichen. Wir begegneten uns nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen. Wir verbrachten unsere Zeit miteinander. Wir akzeptierten uns mit den geheimnisvollen Seiten ebenso wie mit