Slopentied. Deike Hinrichs. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Deike Hinrichs
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844241655
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Zimmer war gemütlich mit viel hellem Holz eingerichtet und roch definitiv nicht nach süßem Kleinkind — hier herrschte der typische Mief schlecht gelüfteter Jugendzimmer. Poster von Sängerinnen und Sängern — vielleicht waren es auch Schauspieler oder andere im Rampenlicht stehende Menschen, Moritz war sich da nicht sicher — zierten die in einem satten Orangeton gestrichenen schrägen Wände. Auf einem Regal sammelten sich Schminkutensilien, die üblichen Teenager-Zeitschriften, jede Menge CDs und Bücher, Kaugummis, Schmuck und Haarspangen. Ein Mädchen auf dem Sprung zur jungen Frau ...

      Ein kleiner Teil des Kindes steckte noch in ihr, aber vielleicht auch nur in den Augen von Moritz, der nur mühsam mit dem Hormonchaos der pubertierenden Tochter zurande kam. Von der pflegeleichten Rosa-Prinzessinnen-Phase hatte er schon vor Jahren schweren Herzens Abschied nehmen müssen. Nun hockte Valentina mit blondierten Strähnen im braunen Haar, Lipgloss auf dem Mund, grauer, zerrissener Jeans und Turnschuhen an den Beinen, auf dem Boden. Es galt, diesen heiklen Lebensabschnitt von Valentina zu begleiten, was ihm als Vater oft nicht leicht fiel.

      Selbstvergessen wie einst in den ersten Lebensjahren beim Zerpflücken jeglicher Papierseiten, pflückte Valentina nun Kleidungstücke aus einem Haufen Klamotten, die auf dem Zimmerboden um sie herum verstreut lagen, und warf sie in die offene Tasche. Moritz musterte seine Tochter. Das schöne, weiche Gesicht mit dem geschwungenen Kussmund erinnerte zwangsläufig an Anita. Von sich selbst entdeckte er neben der Augenfarbe auch die eckige Form der Augenbrauen, die den seinen ähnelten und irgendwie mehr zu einem Jungen gepasst hätten.

      Seine Kindheit und Jugend hatte Moritz in Waren an der Müritz verbracht. Die zahlreichen kulturellen Möglichkeiten in der Hauptstadt des vereinten Deutschlands empfand er immer noch als etwas Besonderes. Zerstreuungen in dieser Vielfalt standen damals, in der ostdeutschen Provinz der 70er Jahre, nicht an der Tagesordnung. Und ohnehin hatten seine Eltern mit drei Kindern bei Weitem nicht den Aufwand betreiben können, den Valentina heute als Einzelkind genoss. Seine Gedanken spulten die Jahrzehnte zurück, als wären es Minuten. Wenn er es sich genau überlegte, hatten ausnahmslos die beiden älteren Schwestern das Unterhaltungsprogramm bestimmt. Moritz war der Schüler, wenn eine der beiden die Lehrerin spielen wollte, Moritz stellte das Kind, wenn Vater-Mutter-Kind gewünscht war, Moritz mimte den todkranken Patienten, der von Ärztin und Krankenschwester verarztet werden musste. Es waren häufig die Statistenrollen, die ihm während der Spielgestaltung zufielen, so auch beim Dauerbrenner Gummihopse.

      In Ermangelung eines zweiten, jüngeren Bruders, über den sie bestimmten konnten, spannten die Schwestern das Gummiband um einen Laternenpfahl, einen Mülleimer oder was auch immer sich auf der Straße anbot, und stellten ihn auf der anderen Seite in die Gummihopse. Während Beate und Konstanze dann, unter sich steigerndem Schwierigkeitsgrad, um die Wette hüpften, blieb Moritz als zweiter flexibler Pfahl stehen. Aktivität entwickelte Moritz, indem er die wichtige Aufgabe übernahm, am Müllkorb die Höhe zu verändern. Durch den nicht unerheblichen Größenunterschied zwischen kleinem Bruder und großen Schwestern stand Moritz in der letzten Stufe das Gummiband sprichwörtlich bis zum Hals. Seine Mutter war einmal entsetzt dazu gekommen, worauf als Maximum für zukünftige Spiele mit der Gummihopse Moritz’ Bauchnabel definiert wurde.

      „Warum seufzt du denn, Papa?“

      Valentina stand, die Augenbrauen fragend hochgezogen, fertig angezogen vor ihm. Die Tasche gepackt, ihr Kuschelkissen unter dem Arm und die nagelneuen Schlittschuhe über der Schulter, wartete sie darauf, dass es losging.

      Moritz nahm die Reisetasche vom Boden und hängte sie sich quer vor den Bauch. „Alles in Ordnung, meine Kleine. Auf geht’s!“

      Moritz öffnete den Kofferraum des Autos, um Valentinas Sieben Sachen einzuladen. In dem alten VW-Passat lagen bereits seine eigenen bejahrten Schlittschuhe, noch aus DDR-Fabrikation; er legte das zweite, nagelneue Paar seiner Tochter hinzu. Für die Fahrt von Mahlsdorf nach Friedrichshain einigten sie sich musikalisch auf Amy Winehouse.

      Beim Eintreten in den schmalen Flur stolperten sie fast über den voll beladenen Wäscheständer, der nicht anders konnte, als im Weg zu stehen. Um die Besuche für Valentina möglichst komfortabel zu gestalten, beschränkte sich Moritz auf eine Schlafnische in dem halben Zimmer. Zuerst hatte er diesen halben Raum als Kleider- und Abstellkammer genutzt und Wohn- und Schlafzimmer auf die weiteren beiden Räume verteilt. Dies stellte sich jedoch schnell als unpraktisch heraus, da sich Valentina bald zu erwachsen fühlte, um mit im väterlichen Schlafzimmer zu nächtigen. Nun nahm Valentina an den Wochenenden und in den Ferien das Arbeitszimmer in Beschlag, ohne dass Moritz die festgelegte Zimmerzuordnung immer wieder aufs Neue tauschen musste.

      In der Wohnung verteilt fanden sich etliche Stücke aus der Zeit mit Anita. Moritz schlief zum Beispiel weiterhin in Bettwäsche, trocknete sich mit Badetüchern ab oder briet sich Eier in der Pfanne, die sie zusammen begeistert mit der neuen harten Westmark gekauft hatten, um sich einen soliden Fundus an Gebrauchsgegenständen für ein gemeinsames Leben anzulegen.

      Moritz hörte Valentina im Bad summen und pfiff munter mit, ohne zu wissen, woher die Melodie stammte. Das Klingeln des Telefons störte die gelöste Stimmung. Selten bekam Moritz noch Anrufe auf dem Festnetz und dachte daher schon länger an eine Abmeldung des Anschlusses. Durch den Hörer schallte laut die hektische Stimme seiner großen Schwester, die auf der ruhigen Insel Rügen lebte. Die stille, mancherorts sanfte, an anderen Stellen raue Schönheit der Ostseeinsel, zeigte keinerlei beruhigende Wirkung auf Beate. Eher das Gegenteil mochte der Fall sein.

      „Ich bekomm’s einfach nicht gebacken, an diesem Wochenende nach Berlin zu kommen. Hier geht’s gerade drunter und drüber und ich musste auch die Schicht tauschen. Kannst du nach Papa sehen? Ich übernehme dafür das Wochenende darauf. Ist das okay für dich?“

      Ihre schwarze Kosmetiktasche in der Hand, aus der der Stiel einer Bürste herausragte, schlenderte Valentina aus dem Bad ins Wohnzimmer und schaute ihren Vater neugierig an, während sie fragend den Kopf schief legte und auf das Telefon zeigte.

      „Ja, ich werd’s einrichten. Schönen Gruß von Valentina, sie ist das Wochenende über bei mir.“

      Beate stand meistens unter Dampf und tanzte auf tausend verschiedenen Hochzeiten. Nachdem klar war, dass Moritz nach dem Vater sehen würde, kam sie hurtig zum Ende. „Gib der Süßen einen Knutsch von mir. Und du, Bruderherz, gib gut auf dich acht.“

      Kapitel 5

      Nachdem Moritz den gestrigen Samstagnachmittag unplanmäßig mit Valentina bei seinem Vater im Pflegeheim verbracht hatte, sollte der Sonntag ein richtiger Papa-Tochter-Tag werden.

      Sonntagvormittag machten sich Valentina und Moritz nach einem ausgiebigen Frühstück mit Rührei, frischen Brötchen und sogar etwas Obst, auf den Weg ins Eisstadion nach Neukölln. Die Parkplatzsuche gestaltete sich kompliziert, aber mit einiger Ausdauer und steigender Entfernung vom Stadion wurden sie fündig. Eine Schlange von aufgedrehten Kindern und fröhlichen Eltern stand an der Kasse. Die in der Minderheit vertretenen missmutigen Teenager bemühten sich, ihren abgeklärten Gesichtsausdruck beizubehalten.

      „Hast du den Schülerausweis dabei?“

      Valentina verneinte mit einem Kopfschütteln.

      „Egal.“

      Einen Geldschein in der Hand verlangte Moritz an der Kasse einmal Erwachsene und einmal Schüler. Anstandslos reichte ihm die Frau die beiden Papierabschnitte, die sie zuvor von zwei unterschiedlich dicken Rollen abgetrennt hatte.

      „Siehste, wer sagt’s denn!“ Erfreut über den gelungenen Kartenkauf, passierte Moritz mit Valentina das quietschende Eisenrondell.

      Aus alter Gewohnheit schnürte Moritz erst die Schlittschuhe seiner Tochter, bevor er seine eigenen Schuhe Öse für Öse fest verknotete. Etwas wacklig setze er die ersten Schritte auf die glatte Eisfläche. Das feste Leder der Schlittschuhe drückte auf seine Fußknöchel, wie ein kräftiger Daumendruck auf einen blauen Fleck. Sehnsüchtig dachte Moritz an die dicken Socken, die er aus irgendeinem unverständlichen Grund heute Morgen nicht angezogen hatte.

      Gänzlich