Während Moritz sich setzte, hörte er zweimal ein Nein, so geht das nicht von Stopske, das der barsch in den Hörer blaffte. Vielleicht ist dieser Morgen doch nicht der ideale Zeitpunkt zum Aufbegehren, schlich sich ein dünnes Stimmchen in Moritz’ Gedanken und erhöhte den Druck im Magen um einige Pascal.
Mit seinen maßgeschneiderten Einbauregalen und dem angefertigten Schreibtisch machte das Zimmer einen fast ehrbaren Eindruck. Von den Decken warfen zur Lichtinstallation zweckentfremdete Stahlträger helles, dennoch weiches Licht auf den geölten Parkettboden. An der Wand rechts vom teuren Schreibtisch hing eine überdimensionale Magnetwand, auf der Stopske nach einem nur ihm vertrauten Prinzip Zeitpläne für die jeweiligen Drehteams sowie die Inhalte der einzelnen Folgen überwachte. Ein kümmerliches Dasein fristeten die Pflanzen im Büro des Produzenten — niemand nahm sich die eine Minute, ihnen ein- oder zweimal die Woche Wasser zu geben. Selbst die tägliche Putzkolonne erbarmte sich ihrer offensichtlich nicht. Da sein Chef immer noch telefonierte, nahm Moritz die halb volle Flasche Mineralwasser von der Fensterbank und verteilte sie gewissenhaft auf die drei Töpfe. Zweimal Grünlilie, einmal Efeutute, ordnete er mühelos zu. Kurz nach der Wende hatte er vorübergehend als freier Fotograf für das Gartenmagazin Grüne Wiese gearbeitet und war dabei der Pflanzenwelt näher gekommen. Leider hatte sich das Heft nicht lange am Markt gehalten, und Moritz musste sich beruflich wieder anderen Themen zuwenden.
Als Erik Stopske das Gespräch endlich beendete — er hatte den Hörer noch in der Hand — klingelte es erneut. Der Anrufer wurde flott abgewimmelt: „Ich rufe zurück“, versprach Stopske und stellte die Rufumleitung zum Empfang ein.
Moritz kam gleich zur Sache: „Es geht mir noch mal um die nächste Folge.“
„Ich höre, mein Bester, schieß los!“ Stopske zeigte sich jovial und unterstrich dies mit einer einladenden Geste.
Moritz räusperte sich und runzelte die Stirn. Jetzt hätte er gerne einen Schluck von dem Wasser getrunken, welches er mildtätig den Pflanzen gespendet hatte. Zu spät. Vorbei ist vorbei. Mit Sicherheit war das Wasser schal und abgestanden und somit ungenießbar, tröstete sich Moritz über den Fehler hinweg. „Ja, also, es geht um die Sache mit Judith und Melanie beziehungsweise um den Aufbau der nächsten Folge. Das Ganze ist ja ein Schönheitswettbewerb. Wir zeigen den Alltag der einzelnen Teilnehmerinnen, ihre Beweggründe, ihre Wünsche, Sorgen, Ängste und so weiter … “
„Soweit bekannt“, kommentierte Stopske gelangweilt.
Moritz ignorierte den Einwurf und fuhr fort: „Brisanz ergibt sich doch ohnehin dadurch, dass sie alle das eine Ziel verfolgen: Jede will den Titel Best Beauty holen. Ich fühle mich wie das letzte Arschloch, wenn ich künstlich Feuer lege und damit schön am Ego der Mädels kratze, welches ja ohnehin bei allen nicht das Beste ist.“
Eine Pause entstand, in der es nicht so wirkte, als wolle Erik Stopske in absehbarer Zeit reagieren.
Eine Spur trotziger setzte Moritz nach: „Und ich versteh’ auch nicht, warum das notwendig sein soll, einen Zickenkrieg anzuzetteln!“
Stopske sprach wie ein geduldiger Lehrer zu seinem begriffsstutzigen Schüler und löste dabei seinen Blick endlich vom Computer-Bildschirm: „Deine humanitären Ansichten in allen Ehren, lieber Moritz, aber das bringt uns nicht voran. Wenn wir nicht die Kamera draufhalten, macht es jemand anderes, und zwar ganz fix. Dann sind wir raus aus dem Geschäft. Ich muss mich auch an die Vorgaben des Senders halten, verstehste?“
Indem er sich als Handlanger anderer hinstellte und alles als von Gott gegeben hinnahm, machte Stopske es sich wieder einfach. Moritz wurmte diese bequeme Einstellung. Um nicht länger still auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch sitzen zu bleiben, in eine Position der optischen Unterwürfigkeit gepresst, erhob sich Moritz geräuschvoll und nahm einen weiteren Anlauf, an Stopskes journalistische Ehre zu appellieren — wenn auch ohne große Hoffnung, dass sein Gegenüber einen Rest davon besaß: „Kann man da nicht einen Kompromiss finden? Die Zuschauer bleiben mit Sicherheit auch dran, ohne dass Judith und Melanie wie die Furien aufeinander losgehen. Mensch, das sind doch noch halbe Kinder! Die meisten noch keine 18. Die wissen doch gar nicht, wie sie hier vorgeführt werden. Und die Eltern fühlen sich noch wer weiß wie wichtig, weil die Tochter im Fernsehen zu sehen ist. Früher durften wir die Wahrheit oft nicht zeigen und jetzt wieder Manipulation des Zuschauers! Ich find’ das ehrlich gesagt zum Kotzen!“
Stopskes massiger Körper füllte den Sessel komplett aus. Selbstgefällig im Chefsessel lümmelnd, steckte sich sein Chef eine Zigarre hinter das fleischige Ohr. Das Ohr gehörte zu der Sorte mit angewachsenem Ohrläppchen, wie Moritz in diesem Moment zum ersten Mal feststellte — ein Zeichen für Schlitzohren, ein Hinweis auf kriminelle Energie. Früher in der Schule hatte Moritz nie etwas auf solche kindischen Katalogisierungen gegeben — eben kam ihm diese Einordnung gar nicht mehr so falsch vor. Ihr Disput schien den Menschen Stopske nicht sonderlich zu beeindrucken und der Produzent Stopske nahm seine Bedenken noch weniger ernst. Moritz ging im Büro unruhig einige Schritte auf und ab und mustere dabei die handbeschriebenen Rücken der Kassetten- und DVD-Hüllen, die in den vollgestopften Regalen, neben Papierbergen von nicht verkaufbaren Konzepten, darauf warteten, jemals wieder in die Hand genommen zu werden.
Im Tonfall eindringlicher werdend, erhob sich jetzt auch Stopske und beugte sich über den Tisch, die breiten Hände mit den gelbbraunen Fingernägeln auf die Tischplatte gestützt. „Ja, und jetzt zählen Quoten und Werbekunden. So ist das beim Privatfernsehen! Judith und Mel werden sich fetzen. Punkt. Was meinst du, wie viele von denen da draußen Schlange stehen, um meinen oder deinen Job zu übernehmen? Wir sitzen doch allesamt im selben Boot. So schnell kannst du gar nicht gucken und du bist weg vom Fenster. Und wir sind hier auch nicht beim Wunschkonzert. Also kneif den Hintern zusammen und mach einfach deinen Job! Ende der Durchsage.“
Mit zusammengebissenen Zähnen zischte Moritz zurück: „Kinder manipulieren und vorzuführen gehört nicht zu meinem Job. Genau das ist das Problem!“
Er begriff, dass er im Augenblick bei Stopske keinen Schritt weiterkam. Ihre unterschiedliche Sichtweise machte eine Einigung schier unmöglich. Irgendwie musste er einen anderen Weg finden. Verärgert und aufgebracht verließ er das Büro, sonst würde die Situation womöglich noch eskalieren. Die Tür ließ Moritz sperrangelweit offen stehen.
Stopske, ganz die Beherrschung in Person, begann bereits wieder zu telefonieren. Seine Telefonstimme bemühte sich um einen geschliffenen Einstiegssatz mit einem Entscheider vom allmächtigen Sender in Sachen Best Beauty: „Herr Lehndorff, ich grüße Sie! Schön, dass ich Sie so schnell an die Strippe bekommen habe … “
Im Vorbeigehen griff sich Moritz hinter dem Empfang eine Flasche Orangensaft aus dem durchsichtigen Kühlschrank, der eigentlich nur zur Befeuchtung durstiger Gästekehlen regelmäßig bestückt wurde. Für die Angestellten befand sich ein voluminöser Wasserspender in der Mitte des Großraumbüros, der meistens gerade aufgefüllt werden musste. Gierig schüttete er den Saft in zwei Zügen hinunter. Er schmeckte süßlich, erfrischte seinen trockenen Gaumen und kühlte ein wenig sein erhitztes Gemüt ab. Die leere Glasflasche ließ er aus Hüfthöhe in den roten Plastik-Papierkorb für die zum Wasserspender gehörenden Pappbecher fallen. Der Aufprall erzeugte ein beachtliches Rumsen, was die Kollegen in der Loft-Etage an den Computern und Telefonen zum Aufschauen veranlasste. Schade, dass er keine Digitalkamera zur Hand hatte, um diesen genialen Schnappschuss der offen stehenden Münder und unkontrollierten Gesichtsausdrücke festzuhalten. Die Unterbrechung der Aufmerksamkeit währte kurz — Sekunden später hielten alle Medienfuzzis die Köpfe wieder gesenkt und die Finger hämmerten auf den Tastaturen, als gäbe es kein Morgen.
Auf Moritz’ Schreibtisch lagerte ein Stapel Kassetten und gleich daneben lagen Listen mit Timecodeangaben vom Drehmaterial. Die Timecode-Listen musste ihm am vergangenen Abend noch jemand hingelegt haben. Er nahm einen der eng beschriebenen Bögen in die Hand. Mit einem flüchtigen Blick erkannte er, dass die Auflistung zu unpräzise war, um damit in den Schnitt zu gehen. Ärgerlich warf Moritz sie wieder auf den Tisch. Die Situationen, in denen niemand Zeit zur Einarbeitung der jeweiligen Praktikanten investierte, häuften sich in den