„Den Kriegern in den Netzen ist nicht zu helfen. Die Fangfäden brennen sich durch die Kleidung ebenso fest und unlösbar in den Körper ein, wie durch die bloße Haut. Da kann auch ich nicht helfen.“
„Die Verletzten, Magier, sie flehen uns an, sie schnell zu töten, um ihnen die furchtbaren Schmerzen zu ersparen.“
„Was sagt dein Vater Mokk dazu?“
„Er hat diesem Wunsch zugestimmt. Er bestimmt gerade die Krieger, die dies erledigen sollen. Ich glaube, sie beginnen schon den Befehl auszuführen. Viele dieser Krieger sind mit den Verletzten eng befreundet gewesen – jetzt müssen sie ihre besten Freunde töten.“
„Ja, das ist traurig, Sohn des Mokk, und wäre der Kriegshäuptling nicht so eigensinnig gewesen, dann wäre dieses traurige Töten jetzt nicht nötig. Was sagen die Krieger der Darr zu dem Starrsinn ihres Kriegshäuptlings?“
„Der Kriegshäuptling hat mächtig an Ansehen verloren. Jeder Krieger weiß, dass ihm im Kampf von allen Seiten der Tod über die Schulter schaut. Niemand würde dem Kriegshäuptling wegen der vielen Toten zürnen, wenn sie im Kampf auf dem Schlachtfeld gefallen wären, wie es in jedem Krieg unvermeidlich ist. Aber wir alle wissen, dass dieser eigenartige achtbeinige Feind für uns unbesiegbar ist. Oft genug haben wir versucht, sie zu jagen und zu erlegen. Immer vergebens. Stets wurden die Jäger zu Gejagten. Der Kriegshäuptling meines Volkes hat sich zum ersten Mal von seinem Hass anstatt von der Klugheit leiten lassen. Das wird ihm niemals vergessen werden.“
Das Gespräch zwischen dem Magier und dem Sohn des Kriegshäuptlings wird unterbrochen, als Hoggo sich den beiden nähert.
„Magier, es liegt nun bei dir, deinen Teil der Vereinbarung zu erfüllen. Wenn du es vermagst, dann bitte ich dich, mit der Vernichtung der Feinde zu beginnen.“
„Ich bin einverstanden, Hoggo. Und doch ist es zu gefährlich, sofort zu beginnen.“
„Warum? Ich glaubte, diese Feinde seien für dich leicht zu besiegen!“
„Die Achtbeinigen sind kein Problem. Aber ich habe euch schon gesagt, dass ich den Eingang in die Höllenwelt öffnen muss. Das ist gefährlich für jeden von uns.“
„Aber daran wird doch dein Versprechen, die Feinde zu vernichten, nicht scheitern! Die Krieger in diesem Lager sind notfalls bereit für ihr Volk zu sterben, wenn die Gefahr, die von den Achtbeinigen ausgeht, dadurch beseitigt werden kann.“
„Keiner, Hoggo, keiner muss sterben – aber alle könnten sterben. Jeder hat es selbst in der Hand.“
„Dann sag mir, was die Krieger tun müssen, damit möglichst viele überleben!“
„Wenn ich die Tore der tiefsten und schrecklichsten aller Höllen öffne, was wird dann wohl passieren, Hoggo?“
„Die in der Hölle eingesperrten bösen Geister und Dämonen werden aus ihrer Gefangenschaft entfliehen – aber bis jetzt war ich der Meinung, dass du selbst nicht an die Höllenwelt und die bösen Dämonen glaubst.“
„Dann wirst du hoffentlich nicht zu sehr erschrecken, wenn heute ein Dämon oder ein böser Geist zum ersten Mal in deinem Leben vor dir steht, dich umschwebt, deinen Körper von der einen Seite zur anderen durchdringt, dich Furcht und Schrecken lehrt.
Sage den Kriegern, dass sie sich auf mein Zeichen auf den Boden setzen sollen und um jeden Preis die Augen geschlossen halten sollen. Sie werden Feuergluten oder den Frost des Winters fühlen, Stürme werden durch die Steppe jagen, mit Furcht und Entsetzen könnten die Bösen der Hölle euch erfüllen. Es kann auch nichts von all dem eintreten.
Stattdessen könnte eine vollkommene Stille einen oder alle Krieger einwickeln, tiefe Nacht könnte sich in ihrem Inneren ausbreiten – alles, einfach alles ist möglich. Die bösen Geister, dringen über die Augen in eure Seelen ein – und dann seid ihr verloren.
Wer die Augen öffnet und einen der Höllenbewohner erblickt, den führt der böse Geist dorthin fort, wo kein Wesen der Welt ihm entkommen könnte. Was auch immer passiert, so lange die Krieger die Augen verschlossen halten, so lange befinden sie sich nur in geringer Gefahr.“
„Hast du schon einmal einen solchen bösen Geist gesehen, Magier?“, will Hoggo wissen.
„Nein, ich habe noch niemals die Pforten der Hölle geöffnet, weil ich sie nicht verschließen kann. Heute aber ist jemand da, der diese Aufgabe übernimmt.“
„Hm“, murmelt Hoggo, „ich habe schon verstanden, warum du den Kristall nur einmal gegen deine Feinde einsetzen kannst. Wer ist es, der sich freiwillig in diese Höllenwelt begeben will – Es kann jedenfalls kein Lebewesen sein, wie wir beide es sind. Ist es etwa auch ein Dämon oder etwa eine Gottheit, Magier? Warum aber ...“
„Es spielt für euch Darr keine Rolle, wer oder was die Pforten der Hölle von innen verschließt. Du würdest es doch nicht verstehen“, unterbricht der Magier Hoggo's Redefluss.
„Mokk wird seine Augen nicht schließen wollen, Magier.“
„Ich zwinge niemanden, die Augen zu schließen, Hoggo. Jeder der Krieger kann sich entscheiden, seine Augen nicht zu schließen – aber jeder von ihnen soll vor der Gefahr gewarnt sein.“
_
Als die Nacht am dunkelsten ist, ist alles vorbereitet, um die Göttin des Silbernen Mondes auf unerklärliche Weise mit dem Kristall zu vereinigen, der nur noch schwach leuchtend aus großer Höhe ein düsteres Zwielicht in die Steppe wirft.
Einmal noch lässt der Magier die kleine Sonne hell aufleuchten, bevor er wieder seinen Arm mit der geöffneten Hand himmelwärts streckt, um den zur Sonne gewordenen Kristall endgültig wieder in seine Hand sinken zu lassen.
Während die Darr noch fürchten in der Sonne zu verbrennen, wenn diese die Erde erreicht, rast die Sonnenkugel schnell kleiner und dunkler werdend erdwärts und kommt in der offenen Hand des Magiers endlich zur Ruhe.
„Hoggo, die Krieger sollen sich jetzt auf den Boden setzen und die Augen geschlossen halten, was auch immer sie nötigt, die Augen zu öffnen. Sie können die Augen gefahrlos wieder öffnen, wenn ich sie dazu auffordere.“
„Was ist mit deinen Augen, Magier. Wirst du sie ebenfalls schließen?“
„Nein. Meine Augen bleiben offen. Als Magier kann ich mich gut gegen böse Geister und Dämonen wehren. Ich werde jetzt die “Weiße“ herbeirufen und dann die Pforten, die in das Innere des Kristalls führen, öffnen. Glaube mir, Hoggo, ich bin selbst unsagbar neugierig auf das, was sich meinen Augen darbieten wird und genauso fürchte ich es auch.“
_
„Alles tot, alles verwüstet, niemand mehr übrig von den fröhlichen Menschen, die hier zu Hause waren, wo jetzt nur ausgebrannte Ruinen wie stumme Zeugen aus besseren Zeiten dem endgültigen Verfall entgegendämmern“, murmelt der Kommandant verbittert vor sich hin.
„Die Vision, die ich im Tempel hatte, ist auf grausame Weise Wirklichkeit geworden. Ich glaubte, die Gefahr käme aus der Steppe, von den wilden Reitervölkern. Ich glaubte, der Gefahr entgegenzureiten und als es Zeit war zu sterben, da war ich nicht zu Hause. Aber ich werde euch nicht noch einmal enttäuschen – euch, die ihr jetzt nur noch als Geister der Toten hier herumirrt. Ich sorge dafür, dass ihr Körperlosen Frieden finden könnt.“
Drei Tage und drei Nächte verbringt der Kommandant bei den Überresten des gepfählten Huang-tse, hält stille Zwiesprache mit dem Toten, vollzieht die Totenzeremonien für die Gepfählten, soweit der Mangel an Kultgegenständen es zulässt.
Am Morgen des vierten Tages nach seiner Rückkehr nach Pan-po, beschließt der Kommandant, das Dorf zu verlassen.
„Ich brauche eine kleine Armee“, überlegt er, „jeder Krieger von mir selbst ausgesucht und ausgebildet. Ich brauche nur wenige hundert Krieger, aus denen ich