Walfreiheit. Niels Wedemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Niels Wedemeyer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745012019
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hatte, fremde Reichtümer zu entwenden, blieb dieser vage Verdacht dennoch bestehen und wollte einfach nicht mehr weichen. Dimitrij trat aus der Ruine seines Cottages und schaute sich um. Inzwischen schienen die Touristen die Anlage fast vollständig verlassen zu haben und die Hotelangestellten begannen bereits mit den Aufräumarbeiten. Wenige Meter entfernt sah er mehrere Männer angestrengt in einem Trümmerhaufen wühlen. Einer von ihnen wurde offenbar fündig und rief die anderen hektisch etwas zu sich. Mit vereinten Kräften zogen sie etwas aus dem schlammigen Haufen, das sich schnell als lebloser menschlicher Körper entpuppte. Es handelte sich offenbar um den beleibten Körper eines älteren Mannes in Badehose. Für einen kurzen Moment blitzte bei Dimitrij die Hoffnung auf, es wäre die Leiche des Deutschen, doch auf den zweiten Blick war der Tote hier älter und kleiner. Die Männer legten den Leichnam vorsichtig auf den Boden und standen einen Moment lang stumm um ihn herum, als würden sie noch einmal ehrenvoll seiner gedenken, ehe sie sich wieder dem restlichen Trümmerhaufen zu wanden. Bald würde er selbst genauso tot sein wie dieser Tourist, dachte Dimitrij bitter. Dabei hatte er noch vor drei Monaten geglaubt, dass der Auftrag in Thailand die Chance seines Lebens sein könnte. Es war weniger der damit verbundene Aufstieg innerhalb der Organisation gewesen, der ihn so gereizt hatte, sondern vielmehr die mit dem Status verbundene Freiheit. Für diese Freiheit und sei sie noch so gering, noch so ätherisch, hätte er alles getan. Keine Gefahr wäre zu groß gewesen, kein Verbrechen zu grausam. Es hätte für Dimitrij das Ende seiner jahrelangen selbstverschuldeten Sklaverei bedeutet. Spätestens jetzt aber waren alle Chancen zunichte gemacht worden. Nun ging es nur noch darum, sein bedauernswertes Leben zu retten. Doch dazu musste er auf schnellstem Wege den Deutschen und vor allem den Koffer finden.

      Er rannte zurück zum Portal der Hotelanlage, wo inzwischen Hunderte von Touristen auf ihren Abtransport warteten. Ein europäischer Hotelmanager versuchte gerade die aufgebrachte Menge zu beruhigen, doch als die ersten Pickups und Songtaos, die allgegenwärtigen LKW-ähnlichen Taxis in Thailand, vorfuhren, gab es kein Halten mehr. Die Menge stürzte kreischend voran und versuchte einen der begehrten Plätze in den Wagen zu ergattern. Dimitrij aber suchte in dem allgemeinen Chaos nach einem großgewachsen Mann mit blonden Haaren, musste jedoch bald einsehen, dass die Suche in dem Gewimmel schier unmöglich war. Er beobachtete wie die Wagen wieder davonbrausten und einige Verzweifelte hinter ihnen herliefen, während sich die zurückgebliebene Menge wieder etwas beruhigte. Dimitrij atmete tief ein und zwang sich zur Geduld.

      „Ich werde Dich finden, Fremder“, murmelte er leise vor sich hin, „und wenn es bis zum Ende aller Tage dauern sollte.“

       3. Gedanken, die anklopfen

      25.12.2004, Patong, Thailand

      Sie beobachtete, wie der Mann, den sie liebte, das Restaurant und ihr Leben verließ, und war dennoch nicht in der Lage, zu weinen. Vielleicht, weil das Ende ihrer Liebe für sie nicht wirklich überraschend kam. An jedem Tag des letzten Jahres hatte es bereits auf sie gelauert. Die Frage war nur, wann es sich zeigen würde. Eine Rettung schien nüchtern betrachtet schon lange nicht mehr möglich gewesen zu sein, so sehr sie es sich auch gewünscht hatte. Mit Anneke an ihrer Seite hätten sie es vielleicht geschafft. Sie war so etwas wie die Kette, die ihre beiden Herzen zusammenhielt, doch Anneke war nicht mehr. Alleine begannen sie sich schon bald von einander zu entfernen, wie zwei Planeten, denen die gemeinsame Sonne genommen worden war. Sie hatte ihm so oft in den letzten Monaten in die Augen geschaut und nach dem Klaas gesucht, der ihr seit Ewigkeiten ein Seelenverwandter gewesen war, doch diese Augen, in die sie da blickte, kannte sie nicht. Sie gehörten einem fremden Mann, der außer seiner verblüffenden Ähnlichkeit nichts mit dem Klaas Petersen gemeinsam hatte, dem ihre Liebe auf ewig gehörte. Vielleicht ist das ja unser Schicksal, dass wir uns in einer ständigen Metamorphose befinden, die uns einander anziehen lässt, um uns im nächsten Moment wieder voneinander abzustoßen. Vielleicht sind wir nur Billardkugeln in einem riesigen Spiel, die immer aufs Neue von einem unsichtbaren Spieler angestoßen werden und so ständig unsere Position zu uns selbst, zu anderen und zu der Welt ändern, dachte sie schmerzlich. Es mochte ja sein, dass ein geordnetes gleichförmiges Leben nur eine naive Illusion war, aber die Vorstellung eines sich ständig wandelnden Daseins machte Rieke mehr Angst als alles andere. Plötzlich wurde der Wert der Dinge, die sie im Leben erreicht hatte und die sie mit Stolz erfüllten, gänzlich bedeutungslos. Was bedeutete schon eine Karriere, wenn man alles verlor, was man liebte? Was bedeutete schon Reichtum, wenn die Einsamkeit bei einem Einzug hielt?

      Das Essen schmeckte plötzlich fad, trotz aller exotischen Würze, und die tropische Hitze dieses Weihnachtsabends ließ sie frösteln. Sie winkte dem Kellner ungeduldig zu und zahlte wortlos. Rieke meinte, die Blicke der anderen Gäste würden ihr zum Ausgang folgen, würden hinter ihrem Rücken flüstern: „Seht her. Diese verhärmte Frau hat gerade ihren Mann verloren. Geschieht ihr recht, so wie sie ihn behandelt hat.“ Sie versuchte erhobenen Hauptes und mit würdenvollem Gang das Restaurant zu verlassen, doch ihre Beine zitterten besorgniserregend. Als sie die Straße erreichte, war sie froh, der unerträglich vornehmen Stille des Restaurants entkommen zu sein und zündete sich erleichtert eine Zigarette an. Hier im Trubel der belebten Promenade von Patong war sie nur eine unbedeutende kleine Person unter vielen. In großen Massen war man nahezu unsichtbar, was Rieke an diesem Abend nur allzu recht war. Ziellos schlenderte sie durch die Straßen der Stadt, schaute den Straßenhändlern zu, wie sie in herrlich falschem Englisch den Touristen ihre Angebote zuriefen, lauschte der immergleichen Discomusik, die aus unzähligen Bars nach draußen drang. Sie beobachtete die jungen Frauen in ihrer aufreizenden Kleidung, die an jeder Ecke herumlungerten, auf der Suche nach einem wohlhabenden westlichen Begleiter. Die Aussichten standen offensichtlich nicht schlecht, denn viele weiße Männer, zumeist ältere Europäer, hatten eine junge Thai im Arm, und stellten ihre Eroberungen voller Stolz zur Schau. Rieke taten diese Frauen unendlich Leid. Mussten Frauen den Männern eigentlich zwangläufig zu Willen sein, um Liebe und Sicherheit zu bekommen? Sie war sich sicher, dass ihre Emanzipation letztlich von Klaas nicht ertragen wurde, schließlich ging ihr Aufstieg mit seinem Abstieg einher. Vermutlich würde er unter der Trennung, zu der er sich an diesem Abend allein entschlossen hatte, mehr zu leiden haben, als sie. Sie war schließlich noch nicht zu alt, durchaus attraktiv und gebildet und dazu noch wohlhabend. Sie würde sicherlich in absehbarer Zeit jemanden finden, der sie schätzen und lieben konnte, redete sie sich trotzig ein. Von weitem kam ihr ein Pärchen entgegen, bei dem der Mann eine auffallende Ähnlichkeit zu Klaas hatte. Groß, blond, breitschultrig. Doch bei näherer Betrachtung erkannte sie einen älteren Mann mit Schlägergesicht und tätowierten Unterarmen, der eine mehr als zwanzig Jahre jüngere, unglücklich dreinblickende Thai im Arm hielt. Obwohl sich die Verwechslung schnell geklärt hatte, war ihr temporäres Selbstbewusstsein bereits wieder verflogen. In ihr wuchs das unausweichliche Bedürfnis nach einer Betäubung ihrer Sinne. Sie wollte die Gedanken an Klaas, die ihr an diesem Abend wie ein herrenloser Hund auf Schritt und Tritt folgten, ein für alle mal los werden. So schnell wie möglich. Kurzentschlossen verließ sie die Promenade und ging in eine gepflegte Bar in einer ruhigen Seitenstraße. Rieke setzte sich an den fast leeren Tresen und bestellte eine Bloody Mary. Während sie dem Barkeeper bei der gekonnten Zubereitung des Cocktails zuschaute, erkannte sie aus den Augenwinkeln einen Mann neben sich, der in Gedanken versunken sein Glas anstarrte, das in gleichmäßigen Bewegungen rotieren ließ. Er war noch nicht alt, doch großflächig ergraut. Ein Südeuropäer, vermutete Rieke. Als hätte er ihre Gedanken gespürt, schenkte er ihr plötzlich ein freundliches Lächeln und prostete ihr zu. Rieke kam sich ertappt vor und errötete auf der Stelle. Zu ihrer Erleichterung deutete der Fremde ihre unverbindlichen Blicke nicht falsch, sondern widmete sich erneut der Betrachtung seines fast leeren Glases. Rieke erhielt ihr Cocktailglas und nahm sofort einen großen Schluck. Doch statt eines wohligen Gefühls stellte sich nur Ernüchterung ein. Alles schmeckte an diesem Abend nach Enttäuschung. Und als ob die mühsamen aufgeschütteten Dämme letztendlich doch zu instabil waren, wurde sie von einer Reihe unerwarteter Gefühle überflutet. Da war die Erinnerung an Anneke, die ihr plötzlich ins Bewusstsein trat. Kleine starke Anneke. Und endlich bahnten sich Tränen sich ihren Weg über ihre Wangen und Rieke ließ es zu. Trotz aller Traurigkeit waren sie ihr eine Erleichterung.

      Neben ihr tauchte ein Schatten auf und fragte mit einer sonoren Stimme, ob sie Hilfe bräuchte. Sie drehte sich zur Seite und erkannte den ergrauten Mann. Wie hätte sie ihm erklären