Rieke schlenderte an einem der größten Resorts an der Bang Tao Beach vorbei, an dem sich an diesem heißen Sonntagmorgen bereits viele westliche Touristen tummelten. Es war spürbar die Hauptsaison von Phuket. Im Gegensatz zum Südteil der Bucht war die Vegetation hier aufgelockerter und wurde durch große Nadelbäume und Pinien bestimmt. Immer wieder sah man ausgedehnte Golfanlagen mit großen Teichen umgeben von mehrstöckigen Hotelkomplexen. Doch was Rieke an diesem Abschnitt der Bucht besonders verwunderte, war der ungewöhnlich starke Einfluss der Gezeiten. Das türkisfarbene Wasser hatte sich fast Hundert Meter weit vom Strand zurückgezogen und ein unansehnliches graubraunes Watt hinterlassen. Zusammen mit Dutzenden Schaulustigen betrat Rieke die freigelegten Flächen, um sich das seltsame Phänomen näher zu besehen. Eltern winken aufgeregt ihre Kinder heran und zeigen ihnen die weit zurückgezogene Wasserlinie. Zwischen kleinen Felsen und kleinen Korallengärten wanden sich bunte Fische im Schlamm und japsten um ihr Leben. Die Urlauber aber lachten nur und freuten sich über das ungewöhnliche Schauspiel, dass ihnen diese exotische Welt an diesem Morgen bot. Auch Rieke bestaunte diese sonderbare Eskapade des Ozeans. Doch plötzlich hörte sie das aufgeregte Rufen eines Mädchens. Als sie sich umdrehte, erschauderte sie. Vor ihr lief die kleine Beeke aufgelöst im Watt herum und rief etwas auf Englisch. Rieke rieb sich die Augen. Das konnte nicht sein, dachte sie. Aber es waren die gleichen engelsgleichen blonden Locken, das gleiche lieblich geschnittene Gesicht, dieselbe kindlich schlanke Figur einer späteren Schönheit.
„Das Zurückziehen des Wassers ist ein untrügliches Zeichen für einen nahenden Tsunami“, rief das Mädchen laut mit sich überschlagender Stimme. Rieke aber schaute sie ungläubig an und erkannte nur die ihr so vertraute altkluge Art des Mädchens. Die meisten anderen Urlauber, die in dem vom Meer freigegebenen Bereich standen, waren inzwischen ebenfalls auf das Mädchen aufmerksam geworden und kamen näher heran.
„So hört doch“, erklärte sie aufgebracht, „in einer Sendung auf Discovery Channel haben sie von Tsunamis berichtet. Es passt alles zusammen. Der Erdstoß, das Zurückweichen des Meeresspiegels. Wir müssen hier sofort verschwinden. Versteht ihr?“ Sie blickte sich verzweifelt zu ihren Eltern um, die ihr mit besorgten Gesichtern zunickten.
„So folgt uns doch!“ schrie sie ein letztes Mal und begann anschließend mit ihren Eltern zum Strand zurückzurennen. Herrschte zuerst noch eine gewisse Belustigung über das ängstliche Verhalten des Mädchens, war dies jetzt einer gespannten Ruhe gewichen. Während Rieke noch über die verblüffende Ähnlichkeit des Mädchens nachdachte, begannen die ersten ebenfalls zurückzurennen, dann folgten weitere. Schließlich wurde auch Rieke von dieser seltsamen Angst erfasst, die das Mädchen soeben gesät hatte, und rannte los. Obwohl keine akute Gefahr zu erkennen war, lief Rieke so schnell sie konnte. In ihrer aufsteigenden Todesangst folgte sie den anderen hinter dem Strand durch den großen Hotelgarten, in dessen Mitte sich ein imposanter Hügel erhob. Hier hatten sich bereits einige Hundert Menschen eingefunden, die plötzlich anfingen zu schreien und erregt auf den Horizont hinter Rieke zeigten. Zuerst wollte sie sich umblicken, um die offensichtliche Gefahr hinter sich genauer abzuschätzen, doch sie entschied sich anders und lief weiter. Die schwachen untrainierten Muskeln ihrer Beine schienen bei dem mühsamen Anstieg zu versagen. Doch mit letzter Kraft schloss sie zu den Menschen auf dem Hügel auf und warf sich keuchend in das trockene Gras. Beim ersten Blick zurück offenbarte sich ihr eine Apokalypse. Es war, als würde das Meer einfach überlaufen. Gewaltige Wassermassen ergossen sich ins Land. Die Welle war schnell und gewaltig. Strandmöbel, Autos, ja selbst Häuser wurden scheinbar mühelos davon gespült. Einige Verzweifelte versuchten auf allen Vieren den Hügel empor zu klettern, doch sie wurden von dem braunen Trüb der heranrauschenden Flut davon gespült. Sie zappelten hilflos im Wasser wie Fliegen in einem Rinnsal. Entsetzte Schreie erhoben sich aus der Gruppe der Geretteten. Rieke schaute den Strand entlang. Überall bot sich das gleiche Bild. Das Meer fiel wie eine riesige Kriegsmacht über diese beschauliche Bucht her. Bis weit in das von Palmen- und Papayaplantagen geprägte Hinterland drangen die Wassermassen und rissen auf ihrem Weg ohne Gnade alles nieder. Nichts schien ihrer unermesslichen Gewalt gewachsen zu sein. Plötzlich dachte sie an Klaas und ihr Magen zog sich augenblicklich zusammen. War er auch in Sicherheit? Oder schlief er noch friedlich im Cottage, als die Fluten kamen. Sofort verwünschte sie sich, weil sie sich in der Nacht nicht neben ihn gelegt hatte. Lieber wäre sie jetzt mit ihm gestorben, als ohne ihn weiterleben zu müssen. Völlig aufgelöst begann sie überstürzt den Hügel herunterzugehen, hinunter zu den noch brodelnden Wassern, doch etwas hielt sie am Arm fest. Als sie sich umdrehte, erkannte sie die kleine Doppelgängerin ihrer Zwillingsschwester, die sie mit ernstem Gesicht ansah und kaum wahrnehmbar mit dem Kopf schüttelte.
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