Anlässlich seines elften Geburtstages hatte die Mutter einen Kuchen gebacken. Sie hatte gestern noch mit Klaas geschimpft, weil er partout keine Kinder zu sich einladen wollte. Aber wen hätte Klaas denn auch einladen sollen? Auf seiner neuen Schule kannte er niemanden. Klaas schien es, in einer völlig fremden Welt gestrandet zu sein, wie manche seiner Fantasiehelden nach einem Schiffsbruch in unbekannten Gewässern. Die Kinder waren ihm so fremd, dass er es vorzog, mit sich und seinen Gedanken allein zu bleiben. Und seine alten Freunde aus Düsternbrooker Tagen hatten sich seit seinem Weggang nicht mehr bei ihm gemeldet. So war es ein einsamer Geburtstag, den Mutter und Sohn an diesem windigen Nachmittag miteinander feierten. Während sie an dem mit Luftschlangen und Luftballons geschmückten Wohnzimmertisch saßen, starrte Klaas immer wieder zum Telefon in der Schrankwand.
„Ist das Telefon in Ordnung?“, fragte er seine Mutter.
„Natürlich“, antwortete die Mutter verwirrt, „warum sollte es denn kaputt sein?“
„War nur so ein Gedanke“, wiegelte Klaas ab und widmete sich wieder der selbstgemachten Donauwelle. Plötzlich schien die Mutter den Grund für Klaas Frage zu begreifen und schluckte schwer.
„Du meinst, weil er noch nicht angerufen hat?“
Klaas antwortete nicht, sondern aß weiter, als hätte er nichts gehört. Doch plötzlich, ohne es verhindern zu können, liefen ihm die Tränen über die Wange. Die Mutter war zutiefst berührt und setzte sich sofort neben ihren Sohn, um ihm den Arm um die Schultern zu legen.
„Ist doch nicht so schlimm, Klaas“, sagte die Mutter sanft, „wir haben doch uns.“ Wie auf ein Stichwort riss sich Klaas los. Inzwischen war der Kloß in seinem Hals so sehr angeschwollen, dass er nichts mehr entgegnen konnte.
„Du weißt doch, wie wütend und unzuverlässig Dein Vater manchmal ist …“, versuchte sie ihren Sohn zu beschwichtigen, doch der sprang auf und unterbrach sie voller Zorn.
„Auf Dich ist er wütend. Auf Dich. Aber ich habe Papa nie etwas getan.“ Die Gefühle rauschten nun über Klaas hinweg, wie eine gewaltige Welle. „Du hast mir mit Deinem blöden Streit alles weggenommen, was ich geliebt habe. Ich hasse Dich so sehr dafür.“ Ohne dem entsetzten Gesicht der Mutter noch einen Blick zu schenken, rannte Klaas hinaus aus dem Wohnzimmer, hinaus aus der Wohnung, aus dem Hochhaus. Vor der Eingangstür hatte er endlich wieder das Gefühl, Luft zu bekommen. Er wischte sich die Tränen fort und machte sich auf den ziellosen Weg. Wie so oft fand er sich schließlich auf dem große Gelände des alten Seefischmarktes wieder. Früher sollen hier viele Fischerboote angelandet und gelöscht worden sein, hatte jemand Klaas erzählt, doch heute waren es nur noch wenige Boote, die mit ihrem Fang den Fluss Schwentine hinauf zum Anleger fuhren. Zwischen Lastwagen, Stapeln von Paletten und schwerem Tauwerk hindurch schlenderte der Junge am breiten Anleger entlang und beobachtete die mühevolle Arbeit der Fischer. Blickte in die Fischluken der Boote, in denen Heringe, Kabeljau und Sprotten silbrig glänzten. Er beobachtete, wie die Fische über ratternde Förderbänder in die große Halle transportiert wurden, wo sie von missmutig dreinblickenden Männern in große Plastikwannen geschaufelt und abschließend mit Eis bedeckt wurden. Klaas liebte diese betriebsame Welt und lauschte fasziniert dem Lärm der Laufbänder, dem ungehobelten Rufen der Männer und dem allgegenwärtigen Geschrei der Möwen.
„Hau ab, Junge!“, rief plötzlich eine brummige Stimme hinter ihm, „Du hast hier nichts verloren.“ Ein Mann in verdreckter Arbeitskleidung zeigte demonstrativ mit dem Arm auf den nördlichen Ausgang des Geländes. Klaas fügte sich ohne Murren und setzte seinen Weg fort. Vor ihm öffnete sich die Mündung der Schwentine, die sich unmerklich in die Kieler Förde ergoss. Er stellte sich gerade vor, wie er mit einem Fischerboot gegen die Unwillen eines gewaltigen Sturms ankämpfte und versuchte, seinen ungewöhnlich reichen Fang nach Hause zu bringen. Doch dann streifte sein Blick zufällig die dunklen Hügel auf der anderen Seite der Bucht und holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Düsternbrook. „Vielleicht hat Papa inzwischen versucht, mich zu erreichen, und ich war nicht da“, dachte er nun mit einigem Schrecken und beschleunigte daraufhin seine Schritte. Er hatte gerade das offene Tor passiert und suchte einen schnellen Weg zwischen den verrosteten Containern hindurch, als sein Blick auf eine Gruppe Jugendlicher fiel, die am Ufer saß und gelangweilt Steine ins Wasser warf. Einer der Jugendlichen, ein schwarzhaariger Junge mit einer platten Nase, entdeckte Klaas als erster und stieß seinen Nachbarn an. Daraufhin erhob sich die ganze Gruppe. Klaas drehte sich ab und ging schneller. Ein ängstlicher Blick über seine Schulter zeigte ihm jedoch, dass die Jungen ihm folgten. Zwar wusste er nicht, warum sie dies taten, vermutete aber, dass sie ihm nicht unbedingt freundlich gesinnt waren, und begann zu laufen. Plötzlich tauchte hinter einem baufälligen Haus ein großer dicklicher Junge auf und versperrte ihm den Weg.
„Wohin so hastig?“, fragte der Dicke mit einem feindlichen Grinsen im schmutzigen Gesicht.
„Nach Hause“, antwortete Klaas leise, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Doch als er den Jungen passieren wollte, hielt ihn dieser an der Schulter fest.
„Hab ich Dir erlaubt, weiter zu gehen?“
„Ich habe Euch nichts getan. Also lass mich gehen!“ Klaas zitterte mittlerweile vor Angst. Und diese wuchs noch, als die anderen sie schließlich erreichten.
„Tarik, schau mal, wer mir da gerade in die Arme gelaufen ist!“ Einige Jungen lachten.
Der Junge mit der platten Nase baute sich vor Klaas auf und musterte ihn finster.
„Ey, weißt Du, was Zoll ist?“, fragte der Junge namens Tarik mit einem schweren Akzent. Klaas nickte.
„Dann wollen wir jetzt Fünf Mark von Dir.“
„Aber Zoll bezahlt man doch nur an einer Landesgrenze“, korrigierte ihn Klaas und bedauerte sofort seine unbedachte Äußerung. Tarik ging einen weiteren Schritt auf ihn zu und stemmte demonstrativ seine Hände in die Hüfte.
„Das hier IST eine Grenze, Du Scheiß“, zischte ihn Tarik an, „entweder bezahlst Du Zoll oder wir saufen Dich im Fluss ab.“
„Ersäufen Dich“, berichtigte ihn Klaas, „das Verb heißt ‚ersäufen’.“ Etwas veränderte sich in Tariks Blick. Seine Überheblichkeit war jetzt blanker Wut gewichen, woraufhin er Klaas grob an der Jacke packte und hoch zerrte, bis Klaas Schuhe für einen kurzen Moment die Bodenhaftung verloren.
„Jetzt werden wir Dich erst zusammenschlagen, bevor wir Dich …. absaufen.“
Klaas erkannte seinen Fehler und spürte erneut eine Welle der Angst über sich zusammenbrechen. In seiner Verzweiflung schlug und trat er nun wild um sich und traf Tarik hart am Kehlkopf, woraufhin dieser ihn sofort aus seinem Griff entließ und sich keuchend an den Hals fasste. Während die anderen Jungen überrascht zusahen, wie ihr Anführer zu Boden ging, nutzte Klaas die Gunst des Moments und stürzte davon. Sofort erhob sich hinter ihm ein wildes Geschrei und das Getrampel vieler Schritte folgte ihm in unangenehm kurzer Entfernung. Klaas hastete über Unmengen von Schrott und dorniges Gebüsch. Vorbei an parkenden Autos und halb heruntergerissenen Zäunen. Ohne sich umzublicken, wusste Klaas, dass die Verfolger ihm knapp auf den Fersen waren. Seine Lungen brannten bereits, als er einen großen Platz mit Segelbooten überquerte. Verzweifelt stellte er fest, dass seine Verfolger