Keine feine Gesellschaft. Olaf Kolbrück. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Olaf Kolbrück
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741868252
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Wohnung spüren. So wie eine Katze wie gelähmt erscheint, wenn sie die Beute sieht, den Vogel oder die Maus einen endlos scheinenden Moment lang abschätzt, Gerüche, Wind, Geräusche aufnimmt und all dies zusammenrechnet, bevor sie zuschlägt. Deshalb achtete Eva nie so sehr darauf, was die Zeugen und Verdächtigen sagten, sondern wie sie es taten. Der Blick, der Lidschlag, das unbewusste Zucken der Augenbrauen, die Länge eines Zögerns waren für sie stets das Barometer für Wahrheit und Lüge, Fakten und zusammenphantasiertes Gerede. Das Böse verriet sich oftmals durch Kleinigkeiten. Der Rest an Information ergab sich dann immer. Irgendwie. Kerner war dagegen immer übereifrig. Er wollte den Täter zur Strecke zu bringen, als sei er auf der Jagd. Solche Emotionen fand Eva immer hinderlich. Diese Fokussierung auf Beute verstellte den Blick. Der Täter war kein Tier, das man erlegt. Er hatte ein Mindestmaß an Respekt verdient. Man musste ihn verstehen lernen, dann brauchte man nur auf ihn zu warten.

      »Vermisst du es?«, fragte Wim in ihr Grübeln hinein.

      »Du meinst, so wie die Jungs hier mit der Nase beinahe über die Leiche zu kriechen, um dann den Pathologen mit der immer gleichen Frage zu nerven und die immer gleiche Antwort zu bekommen? Bestimmt nicht.« Ihr Blick folgte Kerner, der in vorsichtigen Schritten um die Männer der Spurensicherung herumging, hierhin und dorthin deutete, um möglichst wichtig zu wirken.

      »Ich wette, Kerner bekommt allmählich hektische Flecken im Gesicht. Er hat es eilig. Er mag Außentermine nicht so sehr. Im Präsidium hat er mehr Zuschauer, die für die Karriere wichtig sind.«

      »Das ist zu spät. Ich brauche das so schnell wie möglich auf meinem Schreibtisch«, hörte sie ihn einen der Männer anblaffen. Kerner hatte es immer eilig. Auch in der Karriere. Er war im rasanten Tempo befördert worden.

      Weniger angesichts seiner Erfolge, obwohl er die hatte, sondern vor allem, weil er sich gut verkaufen konnte. Ich – das war sein Lieblingswort in Gesprächen. Dann hatte er auch noch das Glück gehabt, dass Eva Ritter vorzeitig aus dem Dienst ausschied. Sie war sicher, dass sich Kerner als ihr Nachfolger nicht lange auf dieser Position aufhalten wollte. Er hatte höhere Ziele. Dabei kam es auch darauf an, möglichst gut auszusehen. Also warf er sich auch hier in Pose, wie ein Feldherr, der seine kleine Truppe beobachtete.

      Eva zog Wim ein wenig näher zu sich heran.

      »Dabei ist das alles nur Theater, weil man sich irgendwie die Zeit vertreiben muss, während man sich einen Eindruck von Tatort verschafft. Schließlich weiß jeder erfahrene Beamte die Antwort schon grob. Man bekommt mit den Jahren einen Blick dafür, wie lange eine Leiche ungefähr im Moder liegt. Es sei denn, sie liegt seit Wochen dort. Aber dann ist es ohnehin sinnlos, die Ermittlungen mit Blaulicht zu starten. Wenn du es auf die Minute genau brauchst, musst du ohnehin warten, bis der Pathologe seine Labortests beendet hat. Pass auf, jetzt sagt der Pathologe ihm gleich: ›Zwölf, höchstens 24 Stunden. Genaueres weiß ich nach der Obduktion.‹«, hauchte sie Voss mit der nachgestellten Stimme des Pathologen ins Ohr und wedelte sich dabei eine dicke Tabakwolke vor der Nase weg.

      Währenddessen hatte sich der Rechtsmediziner, der noch über der Leiche lehnte, nur kurz zu Kerner umgedreht, so als sei er gerade von einem Hausierer angesprochen worden, dem man nicht unbedingt mit Höflichkeit begegnen musste und schon gar nicht die Chance zu einem längeren Gespräch bieten wollte.

      Der Rechtsmediziner Franz Reinhardt stand kurz vor der Pensionierung. Eigenartigerweise war er der einzige im Haus gewesen, der sich bei ihrem Abschied nicht nur nach ihren künftigen Plänen, sondern auch nach der Gemütslage erkundigt hatte. Dabei hatte der Zwei-Meter-Mann wie immer seine langen schlaksigen Arme vor dem Brustkorb verknotet, als wüsste er nicht, wohin damit. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, Mädchen«, hatte er gesagt. Er nannte alle Frauen im Haus immer Mädchen, gleichgültig wie alt sie waren. Die 18-jährige Praktikantin genauso wie Ruth Hammer, die ehemalige Sekretärin des Polizeichefs, die vor einem Jahr in den Ruhestand gegangen war.

      »Mädchen, freu dich an einem guten Essen und an einer guten Verdauung. Das sollte man sich erhalten. Alles andere ist nur ein Furz, der sich ohnehin mit der Zeit verdünnisiert.«

      Das passte zu Reinhardt. Er hatte sich in den Jahrzehnten bei der Kripo einen dermaßen guten Appetit bewahrt, dass er sogar neben der Leiche knien, in Würmern stochern und ein Pastrami-Sandwich essen konnte. Obwohl man ihn sogar bei einer Obduktion selten ohne eine Knabberei in der Hand sah, blieb er überaus hager und sorgte damit stets für neidische Kommentare der Frauen in seiner Umgebung. Eva Ritter eingeschlossen.

      Wie wohl die junge brünette Frau mit ihm zu Rande kam, die einen halben Meter hinter ihm stand? Sie hatte sich einen dicken bordeauxfarbenen Wollschal um Mund und Nase gebunden. Eva tippte auf eine Studentenpraktikantin, die sich vor dem Geruch der Leiche übertrieben fürchtete. Ihre Anwesenheit erklärte auch, warum Reinhardt mit herausgekommen war. Er wollte ihr sicher das ›wahre Leben jenseits des Labors zeigen‹, wie er das nannte. Seine übliche Art zu prüfen, wie abgebrüht seine Praktikanten waren.

      Zu essen hatte er diesmal nichts dabei. Seine Hände schlackerten in der Luft und waren vollauf damit beschäftigt, die Studentin auf Details hinzuweisen. Entsprechend missmutig erledigte er seine Arbeit. Eva sah, wie er ungeduldig zwei Mitarbeitern vom Beerdigungsinstitut, die am Zaun warteten, ein Zeichen gab, dass sie die Leiche jetzt abtransportieren konnten, um kurz darauf Kerner mit einer ›Bin ich Jesus?‹-Geste anzusehen.

      Der Kommissar kam zu ihnen herüber.

      Kerner nickte Wim Voss zu und hüstelte dabei, wie immer, wenn er unter Stress stand.

      »Wann waren Sie das letzte Mal hier?«

      »Letzten Sonntag. Prüfen, ob der Winterschutz noch hielt.«

      »Irgendetwas bemerkt?«

      »Sollte ich? So lange kann der doch da noch nicht liegen.«

      Kerner sah einen Moment lang verwirrt aus. Dann warf er Eva Ritter einen bösen Blick zu.

      »Und heute?«

      »Es muss kurz nach 9 Uhr gewesen sein. Keine besonderen Vorkommnisse.«

      Wim nahm übertrieben Haltung an.

      »Eine halbe Stunde später kam Eva vorbei«.

      »War die Truhe abgeschlossen?«

      »Nein.«

      »Haben Sie keine Angst vor Einbrechern hier im Kleingarten?«

      »Hier? Ihre Ex-Kollegin hat mich das auch schon gefragt. Ihr Polizisten habt das Misstrauen gegen andere Menschen auch in den Genen.«

      Voss sah Kerner an, als habe dieser ihn soeben gefragt, in welchen Safe man am besten einen abgegessenen Apfel steckt. »Schauen Sie sich doch einmal um. In zehn Minuten sind Sie in Kronberg und Königstein, da gibt es lohnendere Ziele. Für die Junkies aus Frankfurt ist das hier außerdem zu weit weg. Und wenn, brechen sie in die Häuschen ein, um eine warme Nacht darin zu verbringen und weil sie auf eine Pulle Schnaps spekulieren. Aber den Gerätekasten? Den schließt hier niemand ab. Wozu auch. Haben Sie schon mal erlebt, dass ein Junkie versucht, am Hauptbahnhof eine Gartenharke zu Geld zu machen oder mit einer Gießkanne über die Zeil rennen sehen, um seinen Dealer zu bezahlen?«

      »Ich kenne einen geistig verwirrten Freigänger, der immer mit seinem Staubsauger auf der Zeil spazieren geht«, sagte Eva.

      »Kennst du den Nackten, der nur in Socken durch Frankfurt läuft?«, fragte Wim.

      Eva verkniff sich ein Grinsen, als sie Kerners gequältes Gesicht sah.

      »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

      »Käme mir nie in den Sinn«, sagte Voss.

      Kerner grummelte wie ein herannahendes Gewitter.

      »Das würde ich Ihnen auch nicht raten. Ich bin zwar überzeugt, dass Sie den Toten nicht erst an anderer Stelle erschießen, um ihn dann im eigenen Garten zu deponieren, aber ich könnte auch auf die Idee kommen, dass Sie eben ein ganz gerissenes Kerlchen sind und Sie erst einmal mitnehmen, wenn Sie hier den Spaßvogel geben wollen.«

      »Weißt du schon, womit und wann er erschossen wurde?«,