»Denk einfach dran, dass es ein schmieriger Typ ist, der Carola eben unter den Schlüpfer gefasst hat.«
Erwin grinste. Der Karpfen schnappte nach Luft und drehte die Augen nach oben, um seinem Mörder ins Gesicht zu sehen. Ich nahm mich zusammen und schlug zu. Dreimal, so fest ich nur konnte.
Erwin grinste noch immer. »Na also. Horst, du hast ja doch Potential. Aus dir wird noch ein richtiger Killer.« Währenddessen ließ er den leblosen Karpfen auf die Seite plumpsen und griff nach dem Messer. Als würde er sein Leben lang nichts anderes machen, stach er mit dem Messer in die Kiemen und zog einen halbmondförmigen Schnitt. Mir wurde schlecht.
»Keine Sorge, der spürt nichts. Dein Schlag hat ihn ins Reich der Träume geschickt. Der Kiemenrundschnitt macht ihm den Garaus. Tod durch Ausbluten. Humaner geht's nicht.«
Mit diesen Worten fasste er den blutenden Fisch und ließ ihn in die Wanne flutschen. Unnötig zu erwähnen, dass diese Aktion für Karpfen Nummer zwei nicht eben deeskalierend wirkte. Er flippte richtig aus, als ihm sein vor sich hinverblutender Kollege entgegentrieb. Erwin war von oben bis unten nass, bis auch dieser Fisch endlich mit dem humanen Kiemenrundschnitt aus unserer Mitte ins Jenseits befördert worden war. Ich war erstaunt über das Repertoire an Schimpfwörtern, das ein Oberlandesrichter aus seinem Sprachschatz hervorzaubern kann. Die Karpfen hatten es ihm nicht leicht gemacht. Die Spritzer aus Fischschleim und Blut, die Gesicht und Hemd bedeckten, mochten ihm unter seinen Jagdkumpels Respekt einbringen, für einen gemütlichen Weihnachtsabend in der Familie taugte das Schlachteroutfit nicht. Auch für mich sollte der Spaß noch nicht vorbei sein. Unter Erwins Anleitung wühlte ich in aufgeschlitzten Fischbäuchen und zog an Eingeweiden, die sich partout nicht von ihrem Eigentümer trennen wollten. Ich war bedient. Und zwar gründlich.
Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass mich der Alte zu mögen schien. Das Fischmassaker war meine Feuertaufe gewesen. Vermutlich betrachtete er mich nun als würdigen Schwiegersohn. Er bot mir das »Du« an. Nachts um halb eins, nach Unmengen von Alkohol. Er sei ab sofort der Erwin. Das gelte auch für seine Frau, die Elfi. Die hatte sich mit ihren Töchtern schon drei Stunden zuvor verabschiedet, um sich wie in jedem Jahr den fünfeinhalbstündigen Director's Cut von Vom Winde verweht anzusehen. Mich hatten sie nicht gefragt. Offensichtlich gehörte ich für sie nach dem Karpfengemetzel zu den Kerlen. Und Kerle sahen sich keine romantischen Monumentalschinken an, Kerle tranken Schnaps. Ich ergab mich in mein Schicksal. Wobei ich zugeben muss, dass der steirische Marillenbrand mit jedem Glas besser wurde. Das war auch nötig. Denn Erwin wurde zunehmend anhänglicher.
Und er hatte eine Botschaft. Einen 10-Punkte-Plan, der mich direkt auf die Überholspur des gesellschaftlichen und beruflichen Erfolgs führen würde:
1. Es gäbe nur einen beruflichen Werdegang, der seit Jahrhunderten als Einziger die tüchtigsten Männer hervorgebracht habe und dies sei die Juristerei.
2. Nach Zivildienst und meiner geplanten Weltreise sei es nun genug des Ausprobierens. In meinem Alter hätte er bereits ein Jahr Studium generale und 2 Semester Jura hinter sich gebracht.
3. Folgerichtig müsste ich mich unverzüglich an einer der besten Unis für Jura einschreiben.
4. Um ein dichtes Kontaktnetz zu knüpfen und dabei Geist und Körper zu stählen, sollte ich sofort bei einer schlagenden Verbindung anheuern.
So ging es weiter, bis ich Punkt 9 als Jahrgangsbester abschnitt, um mir dann 10. aussuchen zu können, ob ich als Notar meine eigene Gelddruckmaschine in Gang setzen, Partner in einer der renommiertesten Münchner Kanzleien werden würde oder als honoriger Richter in seine Fußstapfen treten wollte.
Ich hatte artig genickt und insgeheim gehofft, es nun überstanden zu haben, als Erwin sich zu einem finalen Toast aufraffte: Auf uns Männer und dass den Spaltenpissern – gemeint waren offensichtlich Elfi und seine drei Töchter – regelmäßig klar gemacht würde, wo dem Stier die Eier wuchsen.
Das war Weihnachten 2009. Ich hatte wenig Hoffnung, dass 2010 besser werden würde. Letztes Jahr war Beratungsstunde. Diesmal würde ich nicht so billig davonkommen. Nicht nur Old-Seizinger würde von mir Antworten haben wollen. Mir graute.
Und es blieb nur eine einzige Chance, diesem Zinnober zu entkommen.
KAPITEL 1
Der Geschmack in meinem Mund war fies. Gut, der Wecker hatte zu früh geklingelt. Und dass Tiefkühlpizza mit Zwiebeln und Thunfisch nicht an oberster Stelle der WHO-Liste für ausgewogene und bekömmliche Lebensmittel steht, muss seinen Grund haben. Die Hautfetzen waren es definitiv nicht, die mir wie immer nach dem Genuss besagter Pizza vom Gaumendach herabhingen. Auch hatte ich die Finger von Carolas Zigaretten gelassen. Dennoch spürte ich, dass an diesem frühen Morgen irgendwo zwischen Zungenspitze und Zäpfchen etwas in Maulwurfsgröße munter vor sich hinverweste. Außerdem war mein Mund irgendwie trocken und klebrig. So konnte ich das ganze Elend noch nicht einmal mit einer ordentlichen Portion Spucke herunterschlucken.
Die meisten Menschen hätten sich nun einfach die Zähne geputzt oder einen starken Kaffee gekocht und das Problem wäre erledigt gewesen. Nicht weiter erwähnenswert. In meinem Fall jedoch lagen die Dinge anders. Ich bin alles andere als ein abergläubischer Zeitgenosse. Ich würde mich als durchschnittlich sensiblen, weitgehend unreligiösen, den Naturgesetzen vertrauenden und im Großen und Ganzen klar denkenden Mittzwanziger beschreiben. Die Affinität meiner Mutter zu Sternzeichen war mir immer ein Gräuel. Freitag der Dreizehnte, wie auch immer gefärbte Katzen, homöopathische Zuckerstreusel und Glückskekse schwammen mir in völliger Gleichgültigkeit am Arsch vorbei.
Andererseits: Eine Marienerscheinung bleibt eine Marienerscheinung. Auch wenn man selbst der Einzige ist, dem sich die Gute offenbart hat.
In meinem Fall war es keine Marienerscheinung, sondern ein langer, schlecht schmeckender Pfad der Erkenntnis. Seinen Anfang nahm dies alles vor vielen Jahren. Damals war ich als Kind mit sieben Jahren im Auto eingeschlafen. Meine Eltern waren mit mir auf dem Weg in den Urlaub, nach Südfrankreich. Um Zeit zu sparen, hatte mein Vater einen McDrive angesteuert. Den Cheeseburger hatte ich fast auf, als mich schlagartig die Müdigkeit übermannte. Das Aufwachen war ein Albtraum. Den letzten Bissen hatte ich nicht heruntergeschluckt, sondern wie ein Hamster in einer Backe geparkt. Unbeschreiblich. Sechs minus. Tatsächlich erlitten wir noch in derselben Nacht einen Unfall. Eigentlich nur einen Auffahrunfall mit Blechschaden. Nicht aus Sicht meines Meerschweinchens. Es gab noch ein kurzes Quieken von sich, dann herrschte Ruhe. Meerschweinchenmäßig. Mir war klar, dass da was nicht stimmte.
Was, bitteschön, ein halbverdauter Käse-Fleisch-Brötchen-Klumpen und der Genickbruch eines Meerschweinchens infolge eines Autounfalls miteinander zu tun haben? Isoliert betrachtet nichts. Im Laufe der Monate und Jahre war mir aufgefallen, dass sich unliebsame Ereignisse durch eine unangenehm schmeckende Morgenstunde ankündigten. Ja, noch viel mehr. Ich vermochte eine direkte Korrelation herzustellen zwischen der Tragweite der Geschehnisse und dem Grad der vermeintlichen Fäulnis, den mir meine Zunge signalisierte.
Nun würde ich all diese Dinge normalerweise als Hokuspokus und Scharlatanerie abtun, aber es ist, wie es ist. Ich habe recherchiert. Die Römer analysierten den Vogelflug, die Inkas kauten Kokablätter und ein Stamm im Bergland von Papua-Neuguinea schart sich allmorgendlich lauthals debattierend um die mehr oder weniger lehmartigen Absonderungen ihres Häuptlings, um das Jagdglück für diesen Tag abzuschätzen. Ich hingegen sträubte mich bis heute gegen jede Art der Vorherbestimmung. Zeitweise ging ich so weit, eine Art Protokoll zu führen, das diesen Zusammenhang widerlegen sollte. Anfangs hatte ich mir noch die Mühe gemacht, nach geeigneten Adjektiven zu suchen. Irgendwann bin ich dann der Einfachheit halber auf Schulnoten umgestiegen. Das war wenigstens praktikabel.
Jenem 23. Dezember, dem Morgen nach der Tiefkühlpizza, hätte ich eine glatte Fünf verpasst. Vielleicht sogar eine Fünf minus. Das ist im Nachhinein schwer zu beurteilen. In keinem Fall aber schmeckte der Morgen nach einer Sechs. Schon gar