»Tut sich was?«
»Ich schwitze«, antwortete ich.
»Wir sind sowieso bald am Boden«, sagte Sarah. »In zwanzig Minuten landen wir in Novosibirsk. Die haben ganz schön Stress da vorne. So beschäftigt habe ich die Cockpit noch nie erlebt. Alle drei sind voll am Rumrödeln. Das Wetter scheint nicht so toll zu sein.«
»Dann sollten wir zusehen, dass wir das Schiff klar bekommen«, sagte Jörg und verabreichte die letzten beiden Atemstöße. »Sarah kannst du das übernehmen, ich muss nach vorne.«
»Lass uns durchwechseln«, erwiderte ich. »Lass mich beatmen, ich brauche eine kurze Pause.«
»Und was ist mit Püppchen oder Huber international?«, zischte Sarah, während sie sich hinkniete.
Ich gab keine Antwort. Stattdessen fragte ich: »Haben die von der Hotline noch was gesagt? Gibt es irgendwas, was wir tun können?«
»So fix wie möglich landen und einen Arzt ranschaffen!«
»Das heißt, wir müssen das hier auch während der Landung durchziehen?« Der Satz war Frage und Antwort zugleich.
»Der Chef gibt dreißig Sekunden vor der Landung über PA Bescheid, damit wir uns anschnallen können. Sie ...«, Sarah schnickte ihr Kinn in Richtung der Frau, »... können wir hier vor der Wand liegen lassen. Da kann sie vorerst nicht weg.«
Ich grinste. Sarahs Sarkasmus tat gut.
Während ich kurz aufstand, um Arme und Beine auszuschütteln, trat Attila neben mich. Mit flehentlichem Blick flüsterte er mir zu: »Hey, Alter, tut mir leid, Mann, aber ich bring das nicht.«
Ich nickte und nahm ihm mit einem »Schon gut, wir schaffen das zu dritt« den Druck.
Mehr Zeit, um weitere Weihnachtsgeschenke an meine Kollegen zu verteilen, blieb mir nicht. Ich hatte mich gerade wieder neben die Patientin gekniet, als das Heck des Fliegers von einer unsichtbaren Hand nach oben gezogen wurde. Der Schlag erfasste uns mit einer solchen Wucht, dass ich mitten auf der Brust der Frau gelandet wäre, wäre da nicht die Trennwand gewesen. Reflexartig riss ich die Hände nach vorne. Sarah knallte seitlich gegen die Wand. Aus der Kabine ertönten Schreie. Ich suchte in Sarahs Augen nach einer Erklärung und wartete auf die Gegenbewegung des Flugzeugs. Glaubte ich zunächst noch einen kurzen Anflug des Entsetzens in ihren Augen gesehen zu haben, wurde ich sogleich eines Besseren belehrt.
»Sorry, kann gerade nicht«. Sarah lächelte gequält. Unbeirrt hielt sie mit der einen Hand die Beatmungshilfe umfasst, mit der anderen versuchte sie, sich abzustützen.
Mir war nicht nach Lachen. Ich hatte Mühe, mich auf den Knien zu halten. Schon kam der nächste Schlag.
Über Lautsprecher ertönte Lammers Stimme: »Cabin Crew, sit down immediately!«
»Ist keine schlechte Idee.« Sarah erhob sich und schob sich an der Wand zu ihrem Sitz.
Ich drehte den Kopf zur Seite. Miriam saß bereits.
»Topsi, schnall dich an. So richten wir eh nichts aus.«
Sarah hatte recht. An Wiederbelebung war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Das waren keine handelsüblichen Turbulenzen. Ich klappte meinen Sitz herunter.
»Noch drei Minuten bis zur Landung!« Kais Stimme.
Drei Minuten?
Ich zog die Gurte über die Schultern. Während ich darüber nachdachte, dass drei Minuten ohne Sauerstoff eine verdammt lange Zeit waren, packte uns die nächste Riesenhand. Es war, als würde jemand mit einem Riesenhammer gegen unser Heck schlagen und nur darauf warten, dass das Pendel zurückschwang, um uns erneut einen zu verpassen. Mit jeder Aufwärtsbewegung schlug der Kopf der Frau gegen die Trennwand, um sogleich zurückzuplumpsen. Ich schaute zu Sarah, aber die war gerade dabei, die vor ihr sitzenden Passagiere zu beschwichtigen. Der Kopf der Frau war keine 30 Zentimeter von meinen Füßen entfernt. Vorsichtig stellte ich meinen Fuß nach vorne und drückte mit der Schuhspitze gegen die Backe der Frau. Im gleichen Augenblick fuhr das Fahrwerk aus. Gott sei Dank! Nun konnte es nicht mehr lange dauern. Dann nahm ich etwas anderes wahr. Das hatte ich heute schon mal gerochen. Erbrochenes! Ich beugte mich zur Seite, konnte aber in der abgedunkelten Kabine niemand ausmachen. Egal, jetzt konnte ich sowieso nichts mehr tun. Ich beugte meinen Kopf nach vorne und wartete auf die Landung. Die Schläge hatten inzwischen ein wenig nachgelassen.
Auf den letzten Metern vor dem Aufsetzen verändert sich der Luftstrom um das Flugzeug. Ich wartete auf die erlösende Bodenberührung, als der Flieger plötzlich durchsackte. Es war, als ob die Luft uns nicht mehr haben wollte. Unser Hauptfahrwerk schlug hart auf, gleichzeitig wurde die Flugzeugachse nach oben gerissen und die Triebwerke brüllten auf. Mein Kopf schlug gegen das Polster. Was war das? Wir starteten durch! Ich hatte mit allem gerechnet, aber ... Weiter kam ich nicht. Während der Airbus unter dem Getöse der Motoren an Höhe gewann, kam Bewegung in unsere Patientin. Sie kippte auf die Seite. Das heißt, wenigstens versuchte es ihr Körper. Ihr Kopf klemmte zwischen Trennwand und meiner Schuhkappe.
»Sarah!«, schrie ich.
Sarah reagierte goldrichtig und erwischte mit ihrem Fuß den Oberschenkel der Frau, gerade als diese dabei war, über die Seite zu rollen. Welch bizarre Situation! Gemeinsam hielten wir einen leblosen Körper mit unseren Füßen an Ort und Stelle.
»Wo will sie denn hin?«, frotzelte Sarah.
Mir saß der Schreck in den Gliedern. Warum waren wir durchgestartet? Hatte uns kurz vor Touchdown etwa eine Böe erwischt? Es dauerte ein paar Minuten, bis ich eine Antwort bekam. Diesmal war es Kai, der uns und den Passagieren erläuterte, dass ein Windstoß aus der falschen Richtung den Flieger kurz vor dem Aufsetzen erfasst hatte. Einer Landung stünde aber grundsätzlich nichts im Weg.
Viel mehr als das beschäftigte mich das Schicksal der Frau. Jede Sekunde ohne Sauerstoff war eine verlorene Sekunde. Ich überredete Sarah, trotz der Wackelei mit Beatmung und Herzdruckmassage weiterzumachen. Irgendwie schafften wir es, die nächste Viertelstunde zu überstehen.
Die Landung war ungewöhnlich weich. Ich machte mir Gedanken, ob der viele Schnee für den sanften Touchdown verantwortlich gewesen war, während eine Lineallänge neben meinem Fuß der Kopf einer Frau lag, deren Herz nicht mehr schlug. Bereits während der Flieger die Landebahn hinabrollte, begannen wir erneut mit der Reanimation. Jetzt kam mir jeder Meter wie eine halbe Ewigkeit vor. Auch als wir an einer Parkposition festmachten, dauerte es endlos, bis die Triebwerke abgestellt wurden. In der Passagierkabine herrschte eine eigentümliche Ruhe. Außer dem beständigen Tosen der Klimaanlage war kaum ein Laut zu vernehmen. Erlösend wirkte auf alle daraufhin die Ansage aus dem Cockpit. Bernd Lammers verbreitete sehr authentisch das Gefühl, alles im Griff zu haben. Wir würden unseren medizinischen Notfall in professionelle Hände geben, nachtanken und weiter in Richtung Tokio fliegen.
Attila öffnete die Flugzeugtür. Ein Schwall eisiger Luft wehte herein. Aus dem Schneegestöber schälte sich ein fünfköpfiges Rettungsteam. Es hätte »Dr. Waldemar, ein Notarzt in Aktion« alle Ehre gemacht. Ein Blick genügte, um eine ziemlich durchdacht wirkende Handlungskette in Gang zu setzen. Drei der Retter übernahmen sofort die Reanimation. Nummer vier verschwand im nächtlichen Schneegestöber, während Nummer fünf uns in exzellentem Englisch zu unseren bisherigen Maßnahmen befragte. Innerhalb von zehn Minuten war alles vorbei, unsere Patientin abtransportiert. Das Ganze stellte mein Klischee von der Professionalität zentral-sibirischer Notarzteinsätze völlig auf den Kopf. Die Russen machten dies nicht zum ersten Mal. Die Palette aus Gründen, weshalb Flugzeuge hier zwischenlandeten, durfte verhältnismäßig überschaubar sein. Niesanfälle waren vermutlich nicht dabei.
»Wie geht's denn eigentlich weiter?«, fragte Sarah, nachdem Attila die Tür geschlossen hatte.
»Hast du dem Kapitän nicht zugehört? Der Chef hat gesagt, dass wir zuerst nachtanken und dann weiterfliegen.« Attila hatte offenbar zu seiner alten Form zurückgefunden.
»Entschuldige mal. Im Gegensatz zu dir war ich damit beschäftigt, dieser Frau wieder Leben einzuhauchen.« Sie warf Attila einen