Katharina Wehmeier war nicht dick, aber auch nicht gerade gertenschlank und sie sah immer ein wenig erschöpft aus, so dass sie drohte, vor der Zeit zu altern. Sie las beim Frühstück die Zeitung, spülte ihr Geschirr und setzte sich dann an den Schreibtisch. An diesem Abend traf sie sich mit dem Mitarbeiterkreis in Bergkirchen und betreute anschließend die Öffnungszeit des Jugendcafés.
„Hoffentlich liegt heute Abend kein Schnee mehr da oben.“, stöhnte sie. Das Dorf lag auf dem Wiehengebirgskamm und bestand hauptsächlich aus schmalen, steilen und kurvigen Straßen und Einfahrten. Da waren auch Winterreifen keine Garantie für Sicherheit im Straßenverkehr. Andererseits war sie froh, dass sie den gestrigen Mitarbeiterkreis in der Gemeinde Hille für die nächsten zwei Wochen hinter sich hatte. Sie verabscheute diese unangenehme Mischung aus biblizistischer Frömmigkeit und selbstgerechtem Spießbürgertum, die ihr da entgegenschlug. Und die Hiller verabscheuten sie. Für ihre Schludrigkeit, für die gesellschaftlich relevanten Themen, mit denen sie sie immer wieder belästigte, für ihre theologische Unverfrorenheit und vor allem dafür, dass sie mit fast dreißig Jahren noch nicht in geordneten Verhältnissen lebte, sondern die Gelegenheit hatte, ein sexuell ausuferndes Lotterleben zu führen, das sich leider der Kontrolle durch die Hiller weitestgehend entzog, weil sie im fünf Kilometer entfernten Nordhemmern lebte. Katharina Förster hätte gegen ein solches Lotterleben mit gelegentlich wechselnden Sexualpartnern durchaus nichts einzuwenden gehabt, aber sie schaffte es ja nicht einmal, einen einzigen halbwegs attraktiven jungen Mann an ihrem Leben teilhaben zu lassen. „Wie denn auch“, dachte sie, „wenn man immer nur mit Teenies oder Rentnern rumhängt.“
Jetzt machte sie sich allerdings an die Vorbereitung des Mitarbeiterkreises. Die Tagesordnung stand in fünf Minuten, das Material (Infozettel, Plakate, Ausschreibungen) war in weiteren fünf Minuten zusammengestellt, aber die Andacht für die Einstimmung stand noch nicht. Die Bergkirchener waren offen und experimentierfreudig, auch wenn sie durchweg gemütliche Kuschel-Jugendliche waren. Hier schien die gute alte Zeit der beige-braunen Teestuben noch gegenwärtig.
In Hille hatte sie nur einen Text aus einer CVJM-Arbeitshilfe gelesen, gesungen, gebetet, einen Segen gesprochen.
In Bergkirchen konnte sie sich auch methodisch auf das Thema einlassen: Passionszeit, Fastenzeit oder einen Aspekt der Passionsgeschichte. Am Ende entschied sie sich für die Fußwaschung. Sie würde einem Mitarbeiter die Füße waschen und mit Duftöl massieren und der sollte diese Erfahrung an einen anderen weitergeben, so dass am Ende alle einen solchen Dienst erwiesen bekommen hätten. Nach einem kurzen Erfahrungsaustausch, wie man sich als Empfangender und wie als gebender fühlt, würde sie mit den Ehrenamtlichen den Bibeltext von der Fußwaschung lesen und ein Gespräch anschließen, worin der Unterschied besteht zwischen gegenseitigem Dienen und der aktuellen Wirklichkeit. Sie würde mit einem gemeinschaftlichen Fürbittengebet abschließen und ein Segenslied singen, das die Jugendlichen sich aussuchen dürften.
Ja, wenn jeder das Wohlergehen seiner Mitmenschen im Blick hätte, dachte Katharina Förster, das wäre schon toll. Wenn es zumindest in der Kirche so wäre, dann gäbe es wenigstens einen Zufluchtsort, eine Höhle, eine Insel, welches Bild auch immer man dafür fand. Aber es war doch überall dasselbe und die Kirche war ein perfektes Abbild der Gesellschaft. Irgendwo gab es immer einen Bösen, der alle drangsalierte, skrupellose Täter und Trittbrettfahrer, hilflose Opfer, Mitläufer, Verzweifelte und wütende Rächer. Manchmal fragte Katharina sich, ob das jüngste Gericht nicht schon längst stattgefunden hatte und sie sich bereits in der Hölle befand. Im himmlischen Jerusalem tummelten sich die Erleuchteten, während sie mit den anderen räudigen Sündern vor den Toren der Stadt heulte und mit den Zähnen klapperte. Endlosschleife irdisches Leben. Aber das war jawohl eher die buddhistische Hölle.
13.22 Uhr. Vielleicht sollte sie mal wieder das Telefon einstöpseln. Kaum war der Stecker in der Leitung, da läutete es auch schon.
„Hallo, hier ist Katharina Förster.“
„Kathi! Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen. Hier ist Kai-Uwe. Wo hast du gesteckt?“
„Bett, Dusche, Küche, Schreibtisch. Ich wollte meine Ruhe. Was gibt’s denn so Dringendes?“
„Volkmann ist tot.“
„Du verarscht mich doch.“
„Nee, ehrlich. Der ist ermordet worden.“
Katharina schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Und ich dachte immer, 'Mein ist die Rache, spricht der Herr'“:
5. Minden – Hahlen
Keller parkte seinen Wagen am Straßenrand gegenüber des Einfamilienhauses aus den 80er Jahren. Es handelte sich um ein kompaktes, großzügiges Gebäude, schnörkellos, sandfarben verklinkert mit braunen Türen und Fensterrahmen und dunklen Dachziegeln. Der Vorgarten wirkte steril: gepflegte Rasenflächen, eine niedrige Buchsbaumhecke als Grundstücksbegrenzung. Die Garagenzufahrt und der Zugang zur Haustür waren mit Verbundpflaster befestigt. Anstelle von Beeten war das Gebäude von schmalen Kiesbecken umrahmt, und rechts und links der Eingangstür standen Terracotta-Töpfe, deren Bepflanzung mit Frostschutzsäcken verhüllt war.
„Volkmann“ war auf dem schlichten Messing-Klingelschild zu lesen. Er hatte sich also nicht in der Adresse geirrt. Keller läutete und musste eine Weile warten, bis sich drinnen etwas rührte.
Eine zierliche, unscheinbare Frau öffnete die Tür und blickte ihm skeptisch und äußerst vorsichtig entgegen.
„Frau Volkmann?“, fragte Keller vorsichtig.
„Das ist ja nicht allzu schwer zu erraten.“, antwortete sie säuerlich. Sie schien ihn für einen unseriösen Klinkenputzer zu halten. Er zog seinen Ausweis aus der Manteltasche.
„Mein Name ist Stefan Keller. Ich arbeite für die Kriminalpolizei Bielefeld. Könnten wir uns kurz unterhalten?“
„Ja, worum geht es denn?“, fragte Frau Volkmann alarmiert.
„Mir wäre es lieber, sie würden sich erst setzen.“, antwortete Keller.
Frau Volkmann griff sich an den Hals. „Was ist passiert?“, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. „Sagen Sie mir sofort, was passiert ist!“
„Bitte, Frau Volkmann“, insistierte Keller, „ich bestehe darauf, dass Sie sich setzen.“
Sie trat einen Schritt von der Tür zurück. „Kommen Sie doch rein.“, bat sie ihn. Er schloss die Tür hinter sich und sie ging voran ins Wohnzimmer. Ihr Gang wirkte unsicher und sie setzte sich langsam und vorsichtig in die Ecke eines Zweisitzers, so als befürchte sie, durch eine ihrer Bewegungen etwas zu zerbrechen.
„Nehmen Sie doch bitte auch Platz.“, sagte sie zu Keller und wies mit einer Handbewegung auf einen Sessel.
Keller setzte sich, räusperte sich und sagte dann mit gebotenem Ernst: „Frau Volkmann, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann heute Vormittag ums Leben gekommen ist.“
Mit schreckgeweiteten Augen nahm sie die Hand vor den Mund und sog scharf die Luft ein. „Aber wie – wie kann er“, stammelte sie, ohne den Satz zuende zu bringen.
„Er ist in seinem Büro ermordet worden.“
„Ermordet?!“
Keller reichte Frau Volkmann ein Taschentuch. „Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?“, fragte er teilnahmsvoll.“
„Nicht nötig.“, sagte sie tonlos.
„Frau Volkmann, ich würde Ihnen gern Zeit lassen, diese furchtbare Nachricht eine Weile sacken zu lassen, bevor ich Sie befrage. Aber um die unfassbare Tat an ihrem Mann aufzuklären, brauche ich so schnell wie möglich so viele Informationen wie möglich. Könnten Sie mir bitte genau beschreiben, was heute Vormittag passiert ist? Jedes scheinbar unbedeutende Detail könnte wertvolle Hinweise enthalten.“
„Heute morgen.“, sagte Frau Volkmann