Sonnig mit heiteren Abschnitten. V. A. Swamp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: V. A. Swamp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742768407
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Gott, warum fragt Strawinsky das? Ist das wirklich wichtig?

       Meine Mutter und ich sind bis zum Einmarsch der amerikanischen Truppen dort geblieben. Meine Mutter hat mir öfters erzählt, dass ich das erste Stück Schokolade meines Lebens aus der Hand eines farbigen Amerikaners bekam. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber meine Mutter hat diese Geschichte so oft erzählt, dass wir sie am Ende alle geglaubt haben. Im Mai 45 als sich der Pulverdampf verzogen hatte kehrte meine Mutter jedenfalls mit mir nach Wuppertal zurück.

      Ich erinnere mich, dass meine Mutter mir erzählt hatte, dass sie sehr glücklich war, ihre Mutter und ihre Großmutter unverletzt anzutreffen.

       Und ihr Vater? Hat er den Krieg überstanden?

       Von meinem Vater fehlte zunächst jedes Lebenszeichen. Er hatte sich freiwillig für den Kriegseinsatz gemeldet. Er war in Frankreich, Griechenland und zuletzt wohl auch in Italien. Was er da gemacht hat, weiß ich nicht. Über diese Zeit hat er nie geredet. Meine Mutter wusste auch nicht, was er da getrieben hat. Seine ursprünglichen Lebensträume fanden jedenfalls im April 45 ein jähes Ende in einem Gefangenenlager auf den Rheinwiesen. Das war, glaub ich, kein Ponyhof.

       Kein Ponyhof ?

      Strawinsky hört demnach aufmerksam zu.

       Die Geschichte hat er mir irgendwann erzählt. Man hielt ihn und die übrigen Gefangenen auf den mit Stacheldraht umzäunten Rheinwiesen. Da durfte mein Vater in einem offenen Erdloch unter freiem Himmel darüber nachdenken, warum er diesem Verbrecher Hitler gefolgt war. Die meisten Gefangenen wurden krank, viele starben, mein Vater kriegte die Ruhr.

       Das war vermutlich eine sehr schwere Zeit für Ihren Vater?

       Na klar, aber er fand schnell einen Schuldigen. Er machte immer diesen Hitler für alles verantwortlich und er vergaß tunlich, dass er zu dessen Gefolgsleuten gehört hatte. Nein, ich empfinde kein Mitleid mit seinem Schicksal. Ich denke in russischer Gefangenschaft wäre es ihm viel schlechter ergangen.

       Wann kam Ihr Vater nach Hause?

       Als Nazi gehörte er zu jener Gruppe Gefangener, die erst im September 45 entlassen wurden.

       Wissen Sie, in welchem Zustand er nach Hause kam?

       Mein Vater war sehr sportlich und zäh. Er war Leichtathlet und wegen seiner guten Kondition hat er wahrscheinlich das Ganze überhaupt überstanden. Er war natürlich abgemagert, aber die Frauen päppelten ihn wieder auf.

       Welche Frauen?

       Na ja, meine Mutter, meine Großmutter, meine Urgroßmutter. In dem Haus meiner Oma lebten damals drei Generationen, alle mütterlicherseits. Auch seine Eltern haben sich um ihn gekümmert. Dem Mann ging es nicht schlecht. Allerdings war Dankbarkeit nicht seine Stärke. Er kannte nur Selbstmitleid.

       Sie waren damals fast ein Jahr alt, als ihr Vater nach Hause kam. Sie werden sich allerdings kaum daran erinnern können?

       Natürlich nicht. Aber an eines werde ich mich mein Leben lang erinnern. Ich muss knapp drei Jahre gewesen sein. Meine Eltern unternahmen damals gelegentlich Hamsterfahrten aufs Land. Mit Obst und Gemüse waren wir durch unsere Gärten gut versorgt und mein Großvater väterlicherseits hatte außerdem Hühner. Das war auch nicht schlecht. Andere Dinge wie Fett und Schweinefleisch waren Mangelware. Meine Eltern waren schon ein paar Tage auf Hamsterfahrt und meine Oma hatte mich zu Bett gebracht. In jener Nacht kehrten meine Eltern zurück. Meine Mutter weckte mich. Dann hat sie mir stolz eine dick mit Schweineschmalz bestrichene riesige Scheibe Bauernbrot präsentiert. So etwas hatte ich bis dahin nicht gesehen. Es sah nicht besonders appetitlich aus. Ich weiß noch genau, dass ich mich fragte, warum sie mich deshalb aus dem Tiefschlaf geholt hatte. „Iss“ sagte sie „Na mach schon.“ Es war das Köstlichste, was ich bis dahin gegessen hatte. Das Schmalz umschmeichelte meinen Mund und meine Kehle, der leicht säuerliche Geschmack des Bauernbrotes gab dem Ganzen eine wunderbare Würze. Ich liebe Schmalzbrote bis heute.

      Strawinsky räuspert sich. Wahrscheinlich ist ihm langweilig.

       Wir haben noch etwas Zeit. Erzählen Sie mir bitte noch etwas aus ihrer Kindheit.

      Ich denke einen Moment nach und dann fällt mir die Geschichte mit dem Abschlussfest im Kindergarten ein.

       Am Ende meiner Kindergartenzeit entschieden meine Kindergärtnerinnen, ein großes Fest zu feiern. Dazu sollten wir Kinder ein Spitzenprogramm präsentieren, um Eltern, Verwandten, Nachbarn, Freunden, ach ich weiß nicht, es wurde irgendwie Gott und die Welt eingeladen, und all diesen Leuten wollte man zeigen, in was für einen tollen Kindergarten wir gingen. Wir übten Lieder und Gedichte, es wurde ein Blockflötenorchester zusammengestellt und wir haben halt so ein Zeug geprobt, zu dem wir Fünf- und Sechsjährigen zwar in der Lage aber überhaupt nicht motiviert waren. Ich erinnere mich auch nicht an irgendwelche Wunderkinder mit überragenden Geige- oder Klavierkenntnissen.

       Mein Pech war, dass ich immer schon sehr groß war und alle anderen überragte. Deshalb wurde ich für den Prolog ausgewählt. Da hatten sich die Kindergärtnerinnen echt Mühe gegeben, wahrscheinlich wollten sie Schiller übertrumpfen. An den Inhalt kann ich mich nicht mehr erinnern. Meine Mutter als examinierte Kindergärtnerin war mit mir besonders ehrgeizig. Sie hat diesen Text solange mit mir eingeübt, bis ich ihn ohne Mühe vorwärts und gegebenenfalls auch rückwärts hätte vortragen können. Ich erinnere mich noch genau an den großen Tag.

       Wir wurden alle herausstaffiert, was 1949 wahrscheinlich für die meisten Eltern eine echte Herausforderung darstellte. Meine Mutter zog mir meine etwas speckigen kurzen Lederhosen an. Irgendwo hatte sie nagelneue Träger, vorne mit einem aufgestickten röhrenden Hirsch, aufgetrieben. Auch ein frisch gewaschenes Hemd und nahezu weiße Strickstrümpfe gehörten zu meinem Outfit. Ich war also bestens gerüstet. Der Kindergarten war Teil einer Kirchenanlage, zu der auch ein großer Veranstaltungssaal mit richtiger Bühne gehörte. Ich hatte diesen Saal während meiner gesamten Kindergartenzeit und auch während der Generalprobe nicht zu Gesicht bekommen.

       Wir gingen über den Hof durch den Hintereingang und trafen dort auf die anderen Künstler samt ihren erwachsenen Trainerinnen. Väter waren, glaub ich, nicht dabei. Bis dahin war alles gut gegangen. Wir haben rum gealbert. Wir waren von dem Publikum durch einen großen dunklen Vorhang getrennt. Wir sahen das Publikum nicht, aber wir hörten die Stimmen. Dann schlug irgendwer einen Gong und das Gemurmel verstummte. Eine der Kindergärtnerinnen schob mich durch den Vorhangschlitz auf die Bühne.

       Niemand hatte mich auf diesen Moment vorbereitet. Ich blickte in gefühlt Tausende erwartungsvoll aufgerissene Augen von Eltern, Großeltern, Tanten, Nachbarn und was man sonst so mobilisiert hatte, diesem großen Ereignis beizuwohnen. Die Münder schienen aufgerissen und glichen Raubtieren, die mich jeden Moment zerfleischen würden. Es herrschte eine Grabesstille. Ich stand da, wahrscheinlich mehrere Stunden, es können auch Tage und Wochen gewesen sein, stumm und bewegungslos. Das Einzige, was ich spürte, war die Unruhe hinter dem Vorhang. Man konnte mich zwar von dort nicht sehen, aber mein Angstschweiß war sicher bis in die hintersten Winkel der Bühne zu riechen. Meine Lippen waren verklebt und fest wie Beton. Dann drehte ich mich wortlos um und entkam durch den Vorhangschlitz.

      Strawinsky macht ein Geräusch, das ich nicht identifizieren kann. Aber zumindest weiß ich, dass er noch da ist.

       Was sagte Ihre Mutter zu der Situation?

       Meine Mutter stand da, kalkweiß und mit versteinerter Miene. Ich glaube in diesem Moment wäre sie am liebsten gestorben. Diese Schande war einfach zu viel für sie. Sie versuchte es im Guten, dann unter Androhung schwerster Strafen, mich wieder vor den Vorhang zu bekommen. Aber es war aussichtslos. Selbst das Los der ewigen Verdammnis hätte mich weniger geschreckt, als noch einmal in diese Hölle zu gehen. Meine Mutter zerrte mich schließlich heraus, und sie weinte den ganzen Weg nach Hause ob dieser Blamage.