»Und?«, fragte mich Alexa. »Nervös?«
»Komischerweise gar nicht.« Ich nutzte die Gelegenheit Thomas unauffällig und ausgiebig betrachten zu können.
»Alexa?«, fragte ich. »Findest du nicht auch, dass er ganz schön speckig ist?«
»Nein, finde ich nicht.«
»Aber schau mal, er hat doch ein richtiges Doppelkinn.«
»Ich finde er ist genau richtig und nicht so ein dünner Hering wie dein Ex. Thomas ist ein großer, stattlicher Mann. Ihr wärt ein schönes Paar.«
»So, so.« Ich war noch nicht recht überzeugt. Mir fiel ein, dass ich kürzlich noch gelesen hatte, dass 55 Prozent aller Männer um die Vierzig Übergewicht haben und nur 20 Prozent aller Frauen in derselben Altersgruppe. Ich war mir in diesem Moment sicher, dass Thomas zu den 55 Prozent gehört. Als könnte Alexa meine Gedanken lesen fuhr sie fort:
»Und er ist wirklich nett. Glaub mir. Ich habe ihn kürzlich auf der Ausstellungseröffnung von Samuel Reim getroffen und mich lange mit ihm unterhalten. Er steht mit beiden Beinen im Leben, so wie du.«
»Alexa, ich glaube ER ist nervös. Der hampelt so hin und her. Und manchmal schaut er rüber und wenn ich dann aufschaue, sieht er sofort wieder weg. Wahrscheinlich riecht er den Braten.«
»So weit ich weiß hatte er kürzlich einen Bandschadenvorfall. Es könnte sein, dass er noch Schmerzen hat und daher nicht ruhig stehen kann.«
Bandscheibenvorfall? Ein Pflegefall für Schwester Ella?
»Komm Ella, Angriff. Ich gehe zu ihm rüber und du holst dir ein Glas Wein und kommst dann zu uns.«
Ich hatte mich gerade zu Alexa und Thomas gesellt, als der 1,50 Meter große Kunsthistoriker mich 1,80 Meter-Frau um ein Tänzchen bat. Wie hypnotisiert starte er beim Tanzen auf meine Brüste die für ihn auf Augenhöhe lagen. Vermutlich ließ das seinen Testosteron-Spiegel steigen, was das Tier im Manne weckte, denn er vollführte wahrhaft wildes mit mir auf der Tanzfläche. Mir wurde schwindelig und ich musste mich erst einmal setzen. Da hörte ich eine Stimme hinter mir sagen:
»Gehen wir nachher noch zusammen in eine Bar?«
Es war die Stimme von Thomas und er meinte mich. Ich drehte mich halb zu ihm und erwiderte um Gelassenheit bemüht:
»Gern!«
Zweite Phase beendet. Das ging ja einfach. Fast zu einfach. Ich musste auch im Weiteren gar nichts tun, da Thomas das Kommando übernahm. Ging es hier noch um meinen Plan, oder war es schon seiner?
Thomas bestellte ein Taxi. Thomas nahm mich an die Hand und führte mich zur Verabschiedung zu unserer Gastgeberin Kiki. Diese war auf diesen Fall vorbereitet und verzog keine verräterische Miene. Thomas nannte dem Taxifahrer den Namen der Bar, Thomas bestellte beim Barkeeper zwei Gläser Champagner. Dann bestellte er noch zwei Gläser und noch zwei. Thomas bestellte eine ganze Flasche und schon wieder ein Taxi. Thomas nannte dem Taxifahrer den Namen meines Hotels, ich nannte Thomas die Nummer meines Zimmers. Ab hier keine Details – nur so viel: Vom Bandschadenvorfall war nichts zu merken.
Also auch die dritte Phase erfolgreich abgeschlossen. Ich hatte die Nacht aus gegebenem Anlass nicht besonders viel Schlaf bekommen und war ein bisschen angeschlagen. On Top kamen die Auswirkungen des Champagnergenusses und die nun auf mich einprasselnden Kommentare meine Freundinnen, nachdem ich Ihnen klitzekleine Details der letzten Nacht offenbarte.
»Ella, du kannst doch nicht gleich die erste Nacht mit ihm ...!«
»Ella, habt ihr wenigstens ein Kondom benutzt?«
»Ella, ich bin mir sicher, dass wenn eine Beziehung von Dauer sein soll, dann darf man auf keinen Fall gleich die erste Nacht zusammen ...!«
Nicht gleich die erste Nacht? Wie soll ich das machen? Ich weiß was Sex ist, habe jahrelange Praxis und finde ihn phantastisch. Schlimm genug, dass ich mangels Beziehung eine Zwangspause einlegen musste. Kann man von mir Zurückhaltung erwarten, wenn sich mir eine solche Gelegenheit bietet? Man hält doch auch keinem Hund eine Wurst unter die Nase und nimmt sie wieder weg. Aber ich sah ein, dass so etwas nicht sonderlich damenhaft ist und versprach:
»Meine Lieben, sollte ich wieder einmal in dieselbe Situation kommen, werde ich selbstverständlich die Unerfahrene mimen und mich erst nach wochenlangem Werben verführen lassen. Versprochen!«
Aber bis dahin ...
Thomas schien sich nicht so viele Gedanken zu machen, wie meine Freundinnen. Er wollte mich trotzdem – oder gerade deshalb? – umgehend wieder sehen. Und noch am gleichen Tag trafen wir uns nachmittags zum verspäteten Frühstück.
Ich fühlte mich ein bisschen unwohl in meiner Haut, denn mir fehlte mein acht-Stunden-Schönheitsschlaf und ich sah etwas verquollen aus. Mir bestätigt zwar jeder, dass ich gut aussehe und jünger als ich bin, aber ich mache mir nichts vor – nur unter günstigen Bedingungen. Das heißt:
Viel Schlaf – aber nicht zu viel, denn dann sehe ich ebenfalls verquollen aus.
Gedämpftes Tageslicht – nicht zu hell, sonst sieht man jeden noch so kleinen Mitesser und nicht dort hingehörende Härchen im Gesicht.
Kein Kerzenlicht – wirft Schatten und die Augenringe werden verstärkt.
Immer den Kopf gerade halten – bloß nicht nach unten gucken, das macht ein Doppelkinn und die Wangen hängen runter.
Thomas hatte, wie ich ja schon bemerkt hatte, auch ein Doppelkinn und ihm schien das gar nichts auszumachen. Er erinnerte mich an eine Figur aus ‚Asterix und Obelix’. Da gab es einen Centurio – einen Offizier der römischen Legion – der hatte genau so eine Nase wie er mit schmalem langem Rücken. Die Bauchumfänge von Thomas und dem Centurio stimmten ebenfalls überein.
Thomas ist im Besonderen durch seine Größe ein durchaus attraktiver Mann und er wirkt ausgesprochen sympathisch; aber hübsch ist er definitiv nicht. Warum also bin ich so kritisch mit meinem Aussehen und mache mir so viele Gedanken? Ich fing an mich zu entspannen.
Es wurde noch ein sehr netter Nachmittag, dem nach ein paar Telefonaten ein Treffen bei mir zu Hause in Hannover folgen sollte, um uns besser kennen zu lernen. Die Gespräche mit Thomas waren bisher nicht besonders ergiebig und auch seine Nachrichten übers Handy, die SMSse, waren ausgesprochen minimalistisch. So schickte er mir beispielsweise dieses Rätsel:
»4 a.m. home. Lg 2U. T.«
Seit frühester Kindheit war ich durch meinen Vater darauf trainiert, Sätze die er anfing, dann aber nur im Geiste zu Ende sprach, eigenständig zu vollenden.
»Ihr müsst mitdenken«, forderte mein Vater.
So war es für mich ein Leichtes, die SMS von Thomas zu entschlüsseln. Die Übersetzung von »4 a.m. home. Lg 2U. T.« lautet:
»Wurde gestern eine lange Nacht und bin erst um 4.00 Uhr morgens nach Hause gekommen. Liebe Grüße an dich. Thomas.«
So freute ich mich nun auf seinen Besuch und die Gelegenheit, mehr über ihn zu erfahren.
Montagmorgen, halb 9 im Büro – das Telefon:
»Kuckuck, Sonnenschein! Hier ist Kiki!«
»Kiki! Hallo meine Liebe! Wie geht’s dir?«
»Gut, gut. Genug der Höflichkeiten – alles bestens. Spann mich doch nicht auf die Folter. Wie war das Wochenende mit Thomas?«
»Ach, es war eigentlich ganz nett.«
»Ganz nett? Ist das alles?«
»Tja ...« Ich wusste nicht richtig wie ich das Wochenende mit einem Satz beschreiben sollte, daher holte ich aus:
»Freitagabend,