Ihre Mutter!
Oh ja, ihre Mutter kann locker einen ganzen Stall von Bediensteten beschäftigen. Das hat sie auch zeitlebens getan! Schon in Monikas Kindheit hatte sich der Alltag ihres Vaters, ihrer Schwester und ihr eigener ausschließlich nach dem Rhythmus, den Befindlichkeiten und den Launen ihrer Mutter ausgerichtet. Auch heute noch wird jeder, absolut jeder, der nicht schnell genug das Weite sucht, von der mittlerweile älteren Dame und ihren Ansprüchen vereinnahmt.
Ihre Mutter war Opernsängerin gewesen – eine recht gute und angesehene obendrein. Ihr Vater, Gott hab‘ ihn selig, hatte sie vergöttert. Dieser unselige Umstand der Anbetung durch ihren Vater sowie der angeborene Narzissmus ihrer Mutter in Kombination mit der sensiblen Künstlerin, die sie vorgab zu sein oder vielleicht auch wirklich war, sorgte dafür, dass sich alles im Hause der Familie um ihre Bedürfnisse drehte. Ihre Mutter brauchte absolute Einkehr vor ihren Auftritten, um sich zu konzentrieren und in ihre Rolle einzufühlen. Sie brauchte Ruhe nach ihren Auftritten, weil diese sie emotional sehr erschöpften. Und auch zwischendurch mussten sich alle Familienmitglieder im Haus auf Zehenspitzen fortbewegen, weil ihre Mutter von den meisten Proben in höchster Erregung nach Hause zurückkam. Dann war wieder irgendetwas ganz Furchtbares vorgefallen, was ihre sensible Künstlerseele in Aufruhr versetzt hatte: Mal war es ein zu harter Anschlag des Pianisten gewesen, mal ein vermeintlich kritischer Blick des Intendanten, dann ein falscher Ton ihres Partners beim Duett – der Möglichkeiten gab es unendlich viele. Darüber hinaus hagelte es ununterbrochen Anweisungen, wie um ihre Mutter herum zu verfahren sei: „Jetzt nicht, Kinder, ich brauche Ruhe“, „Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt leise spielen? Ich muss mich konzentrieren“, „Wer hat das Fenster aufgemacht? Soll ich die Tosca heiser singen?“, „Monika, machst du mir bitte einen Tee, Liebes? Ich habe solch ein Kopfweh“, „Ich habe ganz vergessen, dass heute der Dirigent mit seiner Frau zum Essen vorbeikommt, und jetzt muss ich zur Probe. Monika, könntest du bitte …“ und so weiter und so fort. All das und noch viel mehr Dinge, die ihre Mutter betrafen, mussten im Familienleben berücksichtigt werden. Etwas anders zählte nicht, ja es gab gar nichts anderes.
Als Monika erwachsen wurde, gelang es ihr nur mit Mühe, sich der allumfassenden Präsenz und Bedürftigkeit ihrer Mutter zu entziehen. Um ihren Eltern keinerlei Gelegenheit zu geben, sie mit finanzieller Abhängigkeit an sich zu binden, hatte Monika nicht studiert, wie sie es gerne getan hätte, sondern eine Ausbildung in einem großen Industrieunternehmen begonnen, wo sie schon in der Lehre relativ gut verdiente. Solange sie noch zu Hause wohnte, legte sie das Geld sorgfältig zurück und sparte, wo sie nur konnte. Als dann die Lehrzeit fast überstanden war und sie ihre Finanzen bis zum Beginn einer fest zugesagten Anstellung gesichert hatte, suchte sie sich zügig eine Wohnung. Wohlweislich informierte sie ihre Eltern erst kurz vor ihrem Auszug über das Vorhaben und den bereits unterzeichneten Mietvertrag. Alles andere wäre grob fahrlässig gewesen! Ihre Mutter schätzte es nicht, wenn sie auf gewohnte Bequemlichkeiten verzichten musste, und hätte sicher und vermutlich auch erfolgreich interveniert.
Von dem Moment ihres Auszugs an hatte Monika alles vermieden, was sie wieder in riskante Nähe zu ihrem Elternhaus gebracht hätte. Da sie den Kontakt zu ihren Eltern jedoch nicht komplett und rigoros beenden wollte, war das ein ständiger Drahtseilakt gewesen, der bis heute andauert, denn auch jetzt noch muss sie jeden kleinen Finger, den sie ihrer Mutter reicht, schnell mit der ganzen Hand bezahlen.
Monikas Schwester Ute hatte das Problem sehr viel konsequenter gelöst: Sie hatte sich in einen amerikanischen Soldaten verliebt, der in der Nähe stationiert war. Kaum volljährig war sie ihm in die Staaten gefolgt, als seine Zeit in Deutschland abgelaufen war. Glück für Ute, Pech für Monika: Sie hatte die Liebe zu Volker leider nur bis in die nächste Stadt gebracht – und das war allzu oft eine viel zu geringe Distanz zu den Ansprüchen ihrer Mutter!
Doch Monika war lernfähig. Mit der Zeit und mit wachsendem Selbstbewusstsein hatte sie es geschafft, sich ihren Freiraum zu erobern und die Trennung der Lebensräume zu konsolidieren. Als dann vor ein paar Jahren ihr Vater unvermittelt starb, schwitzte Monika noch einmal für ein paar Monate Blut und Wasser: Sie befürchtete, dass sie ihr Schicksal nun doch noch ereilen und ihre Mutter in völliger, hochkünstlerischer Lebensuntüchtigkeit auf ihre Unterstützung angewiesen sein würde. Es wäre Monika äußerst schwer gefallen, sich angesichts dieses dramatischen Verlustes dem bedürftigen Zugriff ihrer Mutter zu verweigern. Doch glücklicherweise fand sich schon bald ein neuer, beziehungsweise alter Verehrer der Kunst ihrer Mutter, der sich als erfolgreicher Versicherungsmakler auch fantastisch darauf verstand, ihr bei allem, was Finanzen, Versicherungen und sonstigen Papierkram anging, um den sich bis dahin ihr Vater gekümmert hatte, zur Hand zu gehen. Monika war erleichtert.
Vor ein paar Monaten jedoch fing ihre Mutter an, mit dem Gedanken zu spielen, gemeinsam mit dem mittlerweile verrenteten Makler zusammenzuziehen. Dazu muss jetzt ihr Haushalt, beziehungsweise Monikas Elternhaus, mit allem, was ein Familienleben lang dort angesammelt wurde, aufgelöst werden. Für solcherlei Aktivitäten ist jedoch der tatkräftige Ex-Makler nicht die richtige Adresse und Monika geriet wieder akut ins Visier ihrer Mutter! Ihr graut davor, die vermutlich ewig andauernden, unseligen Diskussionen mit ihr darüber zu führen, was sie noch braucht und was nicht und was weggeschmissen werden darf. Denn so, wie sie ihre Mutter kennt, wird sie auch dabei wieder alles tun, um ihrem Künstlerinnen-Image entsprechend in Lebensuntüchtigkeit zu glänzen, um sich möglichst ausgiebig den Diensten ihrer Tochter zu versichern! Um alles, was Aufmerksamkeit und einen umfangreichen Stab an Personal verspricht, wird bis zum letzten Atemzug mit Bitten und Betteln, Tränen, dem Vortäuschen von Schwächeanfällen und dem Appell ans schlechte Gewissen gekämpft. Das Schlimmste dabei ist, dass man ihrer Mutter ihren Egoismus nicht einmal vorhalten kann. Die Bedürfnisse anderer Menschen kommen in ihrem Weltbild einfach nicht vor! Ihr etwas anderes beizubringen wäre wohl spätestens die Aufgabe von Monikas Vater gewesen. Doch der hatte es vorgezogen, sich dem Frondienst durch einen raschen Tod zu entziehen, als seine Kräfte nachließen – jedenfalls unterstellt seine Tochter ihm das manches Mal.
Monika bemerkt, dass sie immer noch auf die Dunstabzugshaube starrt. In ihrem Bauch ballt sich schon wieder diese tief sitzende Wut zusammen. Sie findet einfach keine Erlösung, weil sie schon vor langer Zeit eine unauflösliche Allianz eingegangen ist mit einem schlechten Gewissen und dem Wissen darum, dass ihre Mutter in ihrem hohen Alter tatsächlich kaum in der Lage sein wird, auch nur das Geringste an ihrem Anspruchsverhalten zu ändern. Sie weiß, dass sie letztlich nichts tun kann, um diese Situation, die sie seit ihrer Kindheit verfolgt, zu ändern – außer, sie brächte ihre Mutter um. Doch das kommt bei Monika nur als rein hypothetische Lösung infrage, genauso wie der Plan, es ihrer Schwester gleichzutun und auszuwandern. Schließlich müsste sie dann auch ihr eigenes Leben zurücklassen.
Doch damals, vor ein paar Monaten, als sie nach dem kurzen Wortwechsel mit ihrem Mann in die Feldmark hinausgestürmt war, hatte sich plötzlich die Frage aufgedrängt, was sie denn genau zurücklassen würde, wenn sie tatsächlich ihr altes Leben aufgäbe: ein Leben, das aus einem erträglichen, aber nie erfüllenden Halbtagsjob besteht, aus Kindern, die sie sehr liebt, die jedoch längst auf dem Sprung sind, ihr eigenes Leben zu leben, und einem Mann, der eigentlich längst dasselbe tut. Reicht das aus um zu bleiben?
Damals hatte ihr dieses ganze Konglomerat an fragwürdigen Details, die ihr Leben bestimmen, fast den Atem geraubt. Ihr war klar geworden, dass sich etwas ändern muss, wenn sie nicht sehenden Auges in eine aussichtslos deprimierende Situation hineinschlittern will, in der ihre eigenen Bedürfnisse keine Bedeutung mehr haben. Auch wurde ihr klar, dass sie sich dieser Zukunft nur durch eine Flucht entziehen könnte, die zumindest kurzzeitig Erleichterung und die Möglichkeit bringen würde, in Ruhe über ihr weiteres Leben nachzudenken.
Doch wohin sollte sie schon fliehen?
Noch am selben Abend hatte sie eine Frauenzeitschrift zur Hand genommen, nur um sich von ihrer Wut und der frustrierenden Zwickmühle, in der sie sich befand, abzulenken. Dort hatte sie von diesem „Sehnsuchtsort“ in Italien gelesen, wo man in reizvoller Landschaft auf einem liebevoll restaurierten Gutshof eine Auszeit vom Alltag nehmen kann. Das gute Essen wurde gelobt und die