Elli beschließt, sich auf den Urlaub zu freuen und alle Bedenken beiseite zu schieben. Ihr Urlaubsort ist, zumindest den Fotos im Internet nach, wunderschön: ein weitläufiges Anwesen aus mehreren uralten Gebäuden, deren landestypische Fassaden entweder aus groben grauen Steinen bestehen oder klassisch sandfarben verputzt sind. Drum herum gibt es nur grüne Hügel, Weiden, Wälder, Weinberge und sonst gar nichts. Ein Traum!
Außerdem ist sie sehr stolz auf sich, weil sie sich dazu überwunden hat, diesen Urlaub zu buchen und somit die freie Woche nicht allein zu Hause auf ihrem Balkon zu verbringen. Sie wagt es sogar, an einen furchtbar abgelegenen Ort zu fahren, um dort mit Menschen zu musizieren, die sie nie vorher gesehen hat! Das findet sie ganz schön mutig. Beinahe verwegen! Ihre Freunde und Kollegen buchen bestenfalls eine All-inclusive-Reise in den Süden oder ein Ferienappartement an der Ostsee. Doch sie, Elli, fährt nach Italien! Allein! Zu einem Musik-Workshop! Das macht sonst keiner!
Sie seufzt. Eigentlich braucht sie keine solchen Urlaubsabenteuer. Eigentlich hätte auch ihr ein kuscheliges Feriendomizil an der See gereicht. Doch wenn man Single ist und auch sonst niemanden hat, mit dem man den Urlaub verbringen kann, dann ist jeder Platz, und sei er noch so romantisch, einfach nur einsam.
Wann wohl endlich ihr Traumprinz auftaucht?
Resigniert zuckt sie mit den Schultern und verzieht das Gesicht. Sie ist sechsunddreißig, und obwohl sie sich viel jugendliche Frische bewahrt hat und schlank und attraktiv ist, so weiß sie doch, dass die Zeit nicht stehen bleibt und auch an ihr nicht spurlos vorbeigeht. Warum wohl für sie der passende Mann noch nicht aufgetaucht ist? Oder hat sie einfach falsche Vorstellungen von einer Beziehung? Vielleicht muss man irgendwann aufwachen und feststellen, dass es die ganz große Liebe eben doch nur im Märchen gibt – genau wie die Traumprinzen?
Sie denkt an ihren letzten verflossenen Partner. Hätte sie Christian vielleicht doch nicht den Laufpass geben sollen? Er war doch eigentlich ganz vorzeigbar: Führungskraft, schickes Auto, benehmen konnte er sich auch …
Um Himmel Willen – niemals!
Ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken hinunter und sie schüttelt sich unwillkürlich. Sie war ja nicht mal richtig verliebt! Und den Rest ihres Lebens an der Seite eines Mannes zu verbringen, dessen Anwesenheit ihr schnell zu viel wird, mag sie sich nicht einmal vorstellen. Dann doch lieber allein bleiben!
Nach einer Weile trinkt sie den letzten Schluck Milchkaffee aus dem Pappbecher, der in dem Getränkehalter an ihrem Armaturenbrett hängt. Noch zehn Kilometer bis zum vereinbarten Treffpunkt. Dort wird der Dreiunddreißigjährige zusteigen, den sie nach Italien mitnehmen wird. Matthias heißt er. Ob das ein Traumprinz sein könnte? Ein bisschen jung ist er ja für sie. Aber vielleicht wirkt er reifer? Wenn er ansonsten ganz interessant ist, dann sind auch die drei Jahre kein Problem!
Viel konnte sie in dem kurzen E-Mail-Wechsel, in dessen Verlauf sie sich über die Mitfahrmöglichkeit austauschten, nicht über ihn herausfinden. Nur, dass er Koch ist, schrieb er von sich. Und Single. Aber das war ihr eigentlich schon wieder ein bisschen zu viel Information. Natürlich ist es schön, wenn sich an diesem entlegenen Ort in Italien ein paar Männer im passenden Alter einfinden, die nicht gebunden sind. Noch besser, wenn diese Männer auch so sind, dass man sich in sie verlieben kann. Ein Flirt könnte ihre Begeisterung für den Urlaub ganz gewaltig steigern! Aber wenn so etwas unaufgefordert mitgeteilt wird, dann wirkt es schnell nach einem verkrampften Kontaktanbahnungsversuch. Sowas geht sowieso immer schief! Sie ist lange genug auf dem Markt, um sich mit den Feinheiten der Partnersuche auszukennen.
Aber sie ist auch eine Romantikerin! Nur zu gerne stellt sie sich vor, dass in Italien das Glück ihres Lebens auf sie wartet: ein interessanter Mann, der sich unsterblich in sie verliebt! Vielleicht sogar ein Italiener, der dort bestens begütert auf einem umfangreichen Anwesen lebt? Sie würde unverzüglich ihre kärglichen Zelte in Deutschland abbrechen und auf ein romantisches italienisches Anwesen einheiraten. Es gäbe schlimmere Schicksale!
Elli muss über sich selbst den Kopf schütteln. Natürlich wird das alles so nicht passieren. Aber träumen darf sie doch wohl, oder? Wenn das wirkliche Leben so wenig inspirierend ist – oder besser gesagt reichlich frustrierend im Gegensatz zu dem, was sie sich früher einmal vorgestellt hat – dann muss sie doch von Träumen leben. Weswegen soll sie denn sonst morgens aufstehen, wenn nicht in der Hoffnung, dass da draußen irgendwo das ganz große Glück auf sie wartet? Und warum sollte das Schicksal gerade ihr ein Happy End vorenthalten, wenn es doch so viele Frauen gibt, die jemanden gefunden haben, mit dem sie ihr Leben teilen?
Ein Blick auf das Navi zeigt, dass es noch fünf Kilometer sind bis zum vereinbarten Treffpunkt. Die Aufregung steigt, denn je näher sie der Abfahrt kommt, desto stärker werden ihre Befürchtungen bezüglich ihres Beifahrers. Hoffentlich ist er nicht allzu unangenehm! Schließlich müssen sie neun, zehn oder sogar elf Stunden Fahrt miteinander aushalten!
Kurze Zeit später blinkt sie und verlässt die Autobahn. An der Ampel am Ende der Ausfahrt kann sie nach links oder nach rechts abbiegen. Sie wirft einen schnellen Blick auf die Anfahrtsbeschreibung: Erst links und dann nach ein paar hundert Metern auf der rechten Seite soll der Pendlerparkplatz sein, wo Matthias auf sie wartet.
Elli legt den Gang ein und biegt ab. Die Straße führt unter der Autobahn hindurch. Sie fährt langsam und konzentriert, um die Einfahrt nicht zu verpassen, doch eine langgezogene Kurve und der dichte Bewuchs am Straßenrand machen die Gegend nur schwer überschaubar. Wo soll hier ein Parkplatz sein? Da, endlich sieht sie tatsächlich ein blaues Hinweisschild mit einem weißen „P“ darauf.
Als sie auf den geschotterten Platz einbiegt, der zur Straße hin dicht von Büschen eingefasst ist, bemerkt sie mit einem leichten Unwohlsein, dass er fast leer ist. Kurz vor sieben an einem Samstagmorgen ist das vermutlich zu erwarten, denkt sie. Auf was hat sie sich da nur eingelassen? Und was soll sie tun, wenn der Mann, der bei ihr mitfahren will, nicht sympathisch aussieht? Ob sie einfach Gas gibt und weiterfährt? Aber wie soll sie das erklären, wenn Matthias dann doch irgendwann bei dem italienischen Gut auftaucht, wo sie beide ihren Urlaub gebucht haben?
„Keine gute Idee“, denkt Elli. Sie schluckt. „Dann muss ich da jetzt wohl durch.“
Ganz hinten, am anderen Ende des Platzes, rührt sich etwas. Ihre Ankunft scheint bemerkt worden zu sein. Aus einem kleinen roten Auto krabbelt jemand mit langen, dünnen Gliedern aus der weit aufgerissenen Tür der Beifahrerseite. Kurze Zeit später steht ein großer, dünner, blonder Mann mit hängenden Schultern und dicker Hornbrille neben dem Gefährt und öffnet die Tür zur hinteren Sitzbank. Von dort zieht er einen großen Seesack heraus und stellt ihn neben sich auf den Boden. Dann taucht er noch einmal tief ins Innere des Wagens ein und befördert einen schwarzen Gitarrenkoffer mit vielen Aufklebern darauf heraus. Er schlägt die Tür zu, klopft zum Abschied aufs Dach, ergreift seine Utensilien und läuft auf Ellis Auto zu, das sie ein paar Meter vor ihm zum Stehen bringt und den Motor abschaltet.
Elli entspannt sich, denn ein Blick auf ihren Mitfahrer wirkt sofort beruhigend. Attraktiv ist er mitnichten und Elli ist auch sofort klar, dass Matthias nicht der Typ ist, der in ihr Beuteschema passt. Sein rundliches Gesicht schaut zutraulich und freundlich und ist damit meilenweit entfernt von den markanten Gesichtszügen und dem geheimnisvollen, tiefen Blick, der Elli irritieren würde. Doch gleichzeitig kann sie mit diesem Mann, der aussieht wie ein gutmütiger, zu groß geratener Junge, der nur zu gerne Omas über die Straße hilft, auf gar keinen Fall einen gestörten Triebtäter oder brutalen Gewaltmenschen verbinden. Zumindest ihre Instinkte können das nicht. Und so ist sie zwar ein wenig enttäuscht, dass dieser Beifahrer bestimmt nicht ihr Urlaubsflirt werden wird, aber es beruhigt sie auch, dass ihre Mitfahrgelegenheit harmlos und sympathisch wirkt. Erleichtert steigt sie aus ihrem Wagen, um Matthias zu begrüßen.
Matthias ist überrascht: So hat er sich Elli nicht vorgestellt! In seiner Fantasie musste eine Frau, die alleine nach Italien in ein Musik-Camp fährt, etwas „Alternatives“ an sich haben: lange, ungepflegte Haare, nachlässig gekleidet mit Textilien in Knitter- oder Ausbeul-Optik, mindestens ein bisschen mollig und vor allem mit bequemen Sandalen oder Gesundheitsschuhen an den Füßen.