Während ich in diesen Gedanken versunken auf dem Felsbrocken saß, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Lichtschacht, der mich mit der Menschenwelt weit oben verband. Ohne diese Lebensader würde ich mich hier in der Tiefe nicht aufhalten können. Ich erkannte es an dem saugenden Gefühl, das sich außerhalb des Lichtschachtes in mir zurückgemeldet hatte, wenn auch nur mäßig. Falls ich mich zu weit vom Licht entfernte, müsste ich damit rechnen, alsbald die Grenze des Erträglichen zu erreichen.
So schien mir, dass es für mich, hier in der tiefsten Tiefe meiner Seele, trotz aller Faszination nichts weiter zu tun gab. Ich begann deshalb, mich auf die Rückkehr nach oben einzustellen, ließ mir aber noch etwas Zeit, um die urwüchsige Stimmung um mich herum in mich aufzunehmen und auf mich wirken zu lassen.
Da plötzlich – in kurzer Entfernung, halb verborgen hinter einem glitschigen Algengestrüpp – rührte sich was! – Zuerst traute ich meinen Augen nicht. Dann aber sah ich es mehr als deutlich. Ein menschliches Wesen! – Ein jungfräulich anmutendes Mädchen schlängelte sich gekonnt schwimmend durch das Gestrüpp der unzähligen olivengrünen Pflanzenarme und steuerte direkt auf mich zu. Anstelle von Beinen hatte sie eine mit Schuppen besetzte Schwanzflosse, die ihr bis an die Hüften reichte. Oberhalb derselben sah sie ganz so aus, wie man es bei einem naturhaften jungen Mädchen erwartet. Ihre langen dunklen Haare schlängelten sich um ihre zarten Schultern und wallten im Takt mit ihren resoluten Kopfbewegungen. Zwei große, tief dunkle Augen schauten geübt um sich.
In diesem Augenblick wurde sie meiner gewahr. Ich verharrte etwas verlegen auf meinem Felsbrocken und betrachtete unverwandt das auf mich zu schwimmende weibliche Wesen. Ein verhaltenes, ruhiges, irgendwie wissendes Lächeln erschien auf ihren Lippen und widerspiegelte sich zugleich in ihren dunklen Augen. Ohne jede Scheu und in natürlicher Neugier ließ sie sich auf einem großen Felsbrocken mir gegenüber nieder.
Da ich überhaupt nicht darauf gefasst war, dass ein verbaler Gedankenaustausch zwischen uns möglich sein würde, sagte ich nichts, sondern zeigte freundlich erklärend erst auf mich selbst und dann auf den nahe gelegenen Lichtschacht, dessen Existenz unsere Begegnung ermöglicht hatte. Sie gab mit einem Lächeln zu verstehen, dass sie mich trefflich verstanden hatte – und öffnete dann zu meiner Überraschung ihren Mund, um mir in meiner eigenen Sprache zu sagen:
„Ich war gerade unterwegs zum Lichtbaum. Sein weißes Licht zieht mich magisch an und tut mir richtig gut. Deshalb suche ich ihn immer wieder auf. Ich weiß nämlich, dass in seinen obersten Ästen Menschen leben. Das sind luftige Wesen mit zwei Beinen zum Gehen statt mit einer Schwanzflosse zum Schwimmen. So wie bei dir. Aber bisher war noch keiner von ihnen hier unten, wo wir leben. – Du bist eine echte Überraschung!“
Bei diesen Worten ging ihre Unbefangenheit in Staunen über, derweil ihr Blick dem Lichtschacht aufwärts folgte und ihre Hände malerisch die Bewegung ihrer Gedanken illustrierten.
Eine gewisse Regung an meinem Herzen ließ mich begreifen, dass die kleine Meerjungfrau sich in ihrer eigenen, für mich fremdartigen Sprache artikulierte, dass ihre Gedanken aber auf geheimnisvolle Weise in meiner Herzgegend umgewandelt wurden und daraufhin in der mir vertrauten eigenen Sprache meinen Gehörsinn erreichten. Auch begriff ich, dass Welten zwischen uns lagen, und dass es am besten sei, mich ihr einfühlsam anzupassen.
Während sie mit ihrer Schwanzflosse behutsam einige Tiefseekrabben beiseite schob, die sich an ihren Schuppen zu schaffen machten, setzte ich den Gedankenaustausch auch meinerseits in gesprochenen Worten fort, in der Hoffnung, die kleine Meerjungfrau würde meine Rede ebensowohl verstehen wie ich ihre:
„Ich muss gestehen, dass ich in dieser für mich ungewöhnlichen Tiefe nicht so recht in meinem Element bin, obwohl es hier sehr schön ist. Zum Glück bin ich unbeschadet hier angekommen. Wie du siehst, kann ich auf meinen zwei Beinen nicht nur aufrecht gehen. Ich kann sie auch zum Schwimmen benutzen.“
Ich demonstrierte dies, indem ich einige Schwimmzüge um den großen Felsbrocken herum machte, auf dem sie sich niedergelassen hatte. Sie schien tatsächlich alles zu verstehen. Ihre lebenslustig spielenden Augen, ihre spontanen Kopfbewegungen und ihre zwanglosen Gebärden jedenfalls deuteten darauf hin. Sodass ich mich ermutigt fühlte, die Kommunikation verbal fortzusetzen:
„Woher weiß eine Meerjungfrau wie du, dass luftige Menschen mit zwei Beinen ausgestattet sind, statt mit einer Schwanzflosse?“
Die Meerjungfrau wollte gerade antworten, schlug dann aber von einem Augenblick zum andern ein paar schwimmende Saltos rückwärts und aufwärts und schaute in eine bestimmte Richtung:
„Meine Tante ruft mich. Sie will mich davon abhalten, mich dem Lichtbaum zu nähern. Sie meint, das bringe mir Unglück. Aber ich glaube ihr nicht. Sie ist etwas verstaubt, etwas zopfig, wenn du weißt, was ich meine. Sie liegt mir immerzu auf den Schuppen. Sie kann ruhig noch ein bisschen auf mich warten. Das ist sie gewohnt. Wenn sie wüsste, dass ich gerade einem Luftmenschen begegnet bin, wäre sie schrecklich aufgeregt. Ich erzähle es besser niemandem.“
Die kleine Meerjungfrau kehrte mit viel Schwung zu ihrem Platz auf dem Felsbrocken zurück, setzte sich zurecht und schlang ihren rechten Arm um einen schleimigen Ast, der sich in der Strömung über dem Stein hin und her bewegte.
„Das mit den Beinen weiß ich von meiner Großmutter. Sie weiß sehr viel. Ich mag sie sehr. Ich wohne bei ihr, seit meine Eltern von einem großen Raubfisch verschlungen wurden. Ich kann mich kaum an meine Eltern erinnern. Na, wen interessiert das wohl heute! – Also, meine Großmutter und meine Tante und ich wohnen in einer Algenhütte, nicht weit von hier. Von meiner Großmutter weiß ich, dass es Luftmenschen gibt, die mehr gehen als schwimmen, eben weil sie statt einer Schwanzflosse zwei Beine haben. Sonst sind sie uns recht ähnlich, wie ich jetzt mit eigenen Augen sehe. Von wo die Luftmenschen in die obersten Äste des Lichtbaumes gekommen sind, habe ich noch nicht herausgefunden. Meine Großmutter will mir nicht alles erzählen, was sie weiß. Nicht, bevor ich etwas älter geworden bin, sagt sie. Aber sie hat doch erzählt, dass eine Jugendfreundin von ihr auf abenteuerliche Weise durch den Stamm des Lichtbaumes ganz nach oben schwamm – und nie mehr zurückkehrte. Weißt du vielleicht etwas davon?“
Erwartungsvoll schaute sie mich an.
Ich wurde wieder etwas verlegen, denn ich kannte die Geschichte recht gut, hatte aber immer geglaubt, es sei eine reine Märchengeschichte. Wie sollte ich ihr den Unterschied zwischen Märchen und Wahrheit erklären, wenn er mir vielleicht selber noch nicht so richtig bewusst sei. Vielleicht seien Märchen und Wahrheit ja viel mehr miteinander verbunden, als ich es bisher geglaubt hatte. Sonst säße ich wohl nicht hier auf dem Meeresgrund meiner Seele, – im Gespräch mit einer kleinen Meerjungfrau.
Ihre fragenden Augen hingen immer noch an meinen Lippen. Ich fasste mir ein Herz und entschied mich für die Diplomatie:
„Deine Großmutter ist eine kluge Frau. Ich bin sicher, dass sie dir die ganze Geschichte erzählen wird, wenn du einige Jahre älter geworden bist. Aber sag mal, bist auch du irgendwann mal annähernd nach oben geschwommen?“
Die kleine Meerjungfrau freute sich, ihr Wissen und ihre Erfahrungen unter Beweis zu stellen:
„Nein, das hat bisher nicht geklappt. Irgendeine Kraft hält uns Wassermenschen hier unten fest. Aber im Lichtbaum ist die festhaltende Kraft nicht so stark. Dort scheint es eine Gegenkraft zu geben. So bin ich einige Male ein gutes Stück aufwärts geschwommen. Das ist wunderschön. Nur, die Sache hat einen Haken! Je weiter ich nach oben gelange, desto schwindliger wird mir. Zuletzt muss ich die Augen schließen und mir wird schlecht. Ich muss dann umkehren. Aber ich habe herausgefunden, dass ich durch Übung immer höher steigen kann. Deshalb unternehme ich dann und