Mir fällt es schwer, in dieser Krisenzeit zu schreiben. Schreiben ist eigentlich meine Form der Kreativität, die mich schützt, mich lebendig macht, in der ich „aufgehe“. Aber etwas lähmt mich. Meine Gedanken kreisen, sind überall und nirgends. Mein Körper wehrt sich gegen das Sitzen am Schreibtisch, will sich bewegen, ruhelos umherirren. Ich denke, es geht vielen Menschen so. Und ich erzähle davon, nicht um Mitleid zu erregen oder noch eine Posaune vor Jericho zu blasen. Ich schreibe dieses Buch, weil es mir das Gefühl gibt, handlungsfähig zu sein. Handlungsfähig in einer Zeit des Stillstands, des bangen Erwartens, der Starre. Glauben Sie mir, auch als Arzt bin ich in dieser Situation verwirrt und betroffen. Wenn Sie diese Zeilen lesen, nehmen Sie also quasi ein wenig an meinem Heilungsprozess teil. Denn nichts ist schlimmer als das Gefühl, einer (Natur-) Gewalt ohnmächtig ausgeliefert zu sein.
Ich möchte Mut machen. Als Therapeut. Als Mensch. Ich möchte in dieser Lage von meinen Erfahrungen berichten. Nicht nur von den Erfahrungen, die ich als Arzt gemacht habe, sondern auch von jenen, die ich als Ihr Mitmensch mache. Ich will nicht orakeln. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Offenbar fühlen sich viele – noch mitten in der pandemischen Phase – bereits dazu berufen, den Auguren zu geben. Ich möchte Ihnen stattdessen Hilfestellungen anbieten, die seelischen Folgen der Krise zu vermeiden oder abzumildern. Corona ist auch ein Seelenvirus! Vergessen Sie das bitte nicht bei allen Diskussionen um die körperlichen Störungen und wirtschaftlichen Auswirkungen. Geben Sie acht auf sich, Ihre nahen Angehörigen, aber auch Ihre Arbeitskollegen und Bekannten. Nur wenn man weiß, dass ein Ereignis wie die Corona-Pandemie auch Folgen für die Psyche hat, kann man helfen. Und je früher Sie sich und anderen helfen, umso schneller heilt die Seele wieder. Und das ist die gute Nachricht: Das Trauma kann heilen.
Das Leben, das Schicksal oder Gott hat mich auf die Sonnenseite des Daseins gestellt. Ich lebe seit meiner Geburt in einem Land des Wohlstands und Überflusses, habe eine gute Ausbildung erhalten und arbeite in zwei Berufen, die ich mag. Alles ist selbstverständlich. Zumindest war es das. Bis jetzt. Von meiner Mutter weiß ich, dass es in Deutschland einmal andere Zeiten gab. Sie ist ein Kriegskind, hat Not erlebt und die Erinnerungen an dunkle Zeiten verdrängt. Sie hat als Erwachsene die Zeit des ungezügelten Konsums erlebt, den viele als Ausgleich für zuvor erlittene Entbehrungen sahen. Und so waren auch für mich Kaufen, Verbrauchen und Wegwerfen selbstverständliche Konstanten eines Lebensstils, den wir als nicht nachhaltig zu bezeichnen gelernt haben. Und ich musste als älterer Erwachsener nun mühsam lernen, dass es auch anders geht. Dass es anders gehen muss, wenn unsere Kinder eine lebenswerte Welt vorfinden sollen. Natürlich ist das Coronavirus nicht einfach eine „Rache der geschändeten Natur“. Diese Sichtweise wäre doch ein wenig zu einfältig und aktionistisch. Jedoch sollte uns die im Angesicht von SARS-CoV-2 erlebte Wehrlosigkeit zu denken geben.
Wir sind auf der Leiter hoch gekommen. Wir mäkeln zwar an den Grundpfeilern unseres Wohlstands, aber verändern wollen wir nichts. Es könnte ja eben immer noch „ein bisschen besser“ sein. Dass wir weit oben stehen, birgt in sich die Gefahr des Fallens, des tiefen Fallens. Und so erklärt sich das Paradox, dass wir trotz vieler Absicherungen im wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bereich sehr stark anfällig sind für Angst. Und es sind Verlustängste, mit denen wir jetzt in Corona-Zeiten unbarmherzig konfrontiert werden. Der Verlust unserer Gesundheit. Der Verlust lieber Menschen. Der Verlust von Annehmlichkeiten und Wohlstand. Der Verlust unseres Gefühls, unverwundbar zu sein und alles im Griff zu haben.
Warum sprechen wir eigentlich von einer „Krise“? Sicherlich auch, weil „es so schrecklich ist“, „ungeahnte Ausmaße annimmt“ und „uns alle bedroht“. Eine Krise ist aber mehr. Sie bezeichnet einen Höhepunkt, die Zuspitzung einer gefährlichen Entwicklung. In der Medizin ist die Krisis der Wendepunkt im Verlauf einer Erkrankung, wenn etwa nach einem Anstieg das Fieber wieder sinkt.
Wissen wir also instinktiv, dass wir uns schon lange auf einem gefährlichen Weg befinden? Dessen krisenhafte Zuspitzung jetzt die Corona-Pandemie ist? Wissen wir, dass sich etwas ändern wird nach dem Höhepunkt? Dass es nicht mehr weitergeht wie vorher? Mit diesen Fragen, die eher Ahnungen sind, stellen wir uns bereits dem Thema dieses Buchs. Denn Unklares, Unvorhergesehenes kann Ängste auslösen. Und Corona bringt unsere Generation(en) an Grenzen, an denen wir nie zuvor gewesen sind.
Ich möchte Ihnen einige Worte meiner Mutter auf den (Lese-)Weg mitgeben. Sie sieht vielleicht aufgrund ihrer Lebenserfahrungen und ihres hohen Alters alles etwas gelassener (obwohl sie ja zu einer Hochrisikogruppe im Erkrankungsfall gehört):
„Es gab so viele Dinge in meinem Leben, von denen ich glaubte, ich schaffe sie nicht. Aber das Wichtige habe ich dann doch irgendwie geschafft.“
„Mir geht es doch gut. Ich kenne Zeiten, da gab es kein Morgen, sondern nur ein Heute. Auf morgen kann ich hoffen und bangen, aber heute kann ich einen guten Kaffee trinken.“
Angriff auf unser Zentrum
Gesundheit ist wichtig. Oft merken wir das erst, wenn sie bedroht oder sogar schon geschädigt ist. Schaden, Bedrohung, Angriff. Ich bin kein Freund dieser martialischen Ausdrücke, aber sie machen uns auch klar, wie wir fühlen. Wie wir die Pandemie erleben. Manche Politiker sprechen tatsächlich von einem Krieg, den wir führen müssen, einem Kampf gegen das Virus. Wir werden noch darauf zurückkommen und sehen, dass diese Sichtweise durchaus ihre Gründe hat.
Das Virus greift zunächst unsere körperliche Gesundheit an. In der akuten Phase wird über Infektionszahlen, Symptome, Vorbeugung, Quarantäne, Impfungen und Hygiene gesprochen. Niemand denkt an die seelischen Folgen. Diese machen sich erst schleichend bemerkbar. Die Betroffenen sind zunächst auf sich allein gestellt. Traurige Verstimmtheit, Rückzug, Weinen, Grübelneigung, unklare Gefühlsausbrüche, Ängste. Viele denken, sie hätten „nur schwache Nerven“ oder wären einfach „nah an Wasser gebaut“. Diese Menschen sehen Pflegekräfte, Rettungssanitäter, Ärzte oder Politiker in den Medien, die die „Helden“ dieser Krise sind. Und sie empfinden dann auch noch Scham. Weil sie sich selbst schwach fühlen. Weil sie denken, sie hätten versagt. Sie fühlen sich zunehmend wertlos: Corona ist eben auch ein Frontalangriff auf unserer Selbstwertgefühl!
Wie kommt es dazu? Ganz einfach, Corona hat direkte, seelische Folgen. Unsere Gefühlszentrale im Gehirn wird stark überfordert, da innerhalb kurzer Zeit enorme Belastungen verarbeitet werden müssen. Und dieser Zustand ähnelt tatsächlich Kriegserfahrungen. Je mehr Zeit nach der Pandemie vergeht, umso mehr werden die rein körperlichen Störungen an Bedeutung verlieren. Und umso deutlicher werden die psychischen Auswirkungen sein. Wenn Sie also Anzeichen einer seelischen Überlastung an sich bemerken, dann müssen Sie sich deshalb nicht schwach, unfähig oder bedeutungslos fühlen! Ihre Reaktion ist völlig normal, denn die psychische Last muss erst verarbeitet werden.
Die Pandemie erschüttert einige unserer Grundfesten. Trotz allen Ärgers und Misstrauens leben wir auf diesem Planeten in einer Gemeinschaft. Und diese wird nun von einem nicht sichtbaren, lautlosen Gegner bedroht. Und wir müssen ehrlich sein und zugeben, dass viele unserer Reaktionen nicht anders sind als die unserer Vorfahren zu anderen Zeiten. Schon Griechen und Römer wiesen Lepra-Kranken abgetrennte Wohnorte zu. Zu Pestzeiten trugen viele Leute Masken, die durch wohlriechende Kräuter vor dem „Pesthauch“ schützen sollten. Und bis in die Neuzeit wurden Kranke in Siechenhäusern am Rande der Städte untergebracht.
Trennung, Isolation, Ausgangssperre. Es sind fürchterliche Begriffe, die uns im Zusammenhang mit Corona begegnen. Dabei möchten wir doch als Menschen keinesfalls allein sein. Laut dem amerikanischen Psychologen Abraham Maslow gehört nämlich der Wunsch nach (Gruppen-) Zugehörigkeit zu den wichtigsten Bedürfnissen des Menschen:
Gruppe (Freunde, Arbeit …)
Sicherheit (Unversehrtheit, Heim …)
Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlaf …)
Nach