»Ihr solltet nicht nach ihm suchen.«
Melecays Stimme riss Wexmell aus seinen trüben Gedanken. Er blickte auf und rang sich ein mattes Lächeln ab. »Ich muss.«
Frustrierend seufzend lehnte Melecay sich zurück. »Ich muss gestehen, mir wäre wohler, ihn nie wieder zu sehen. Der Anblick des Dämons erinnerte mich stets daran, was ich ihm schuldig bin.« Er knirschte verdrossen mit den Zähnen. »Und das gefällt mir nicht.«
Mit einem nachsichtigen Lächeln klappte Wexmell das Buch zu. »Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn wir in der Schuld anderer stehen. Es bedeutet lediglich, dass wir Freunde und Verbündete haben, wegen denen wir nie alleine dastehen.«
Melecays Lippen kräuselten sich, als hätte er Dung gerochen. »Es bedeutet, auf andere angewiesen zu sein. Es bedeutet, sich auf den Schultern anderer auszuruhen.«
»Dann haltet Ihr mich für schwach und angreifbar, weil ich in dieser Sache Eure Hilfe benötige?«, fragte Wexmell. Er klang weder verärgert noch überheblich, allenfalls ein wenig tadelnd, aber überwiegend neugierig. »Oder haltet Ihr Euch selbst für zu schwach, weil Ihr in dieser Situation meine Hilfe benötigt?«
Melecay starrte in den leeren Raum zwischen ihnen, seine Kiefer mahlten, wie die eines kleinen Jungen, der ausgeschimpft wurde, der aber keinerlei Reue empfand.
»Wir brauchen einander«, sprach Wexmell auf ihn ein, »ich brauche Euch ebenso sehr wie Ihr mich. Ihr habt nie durchblicken lassen, dass es Euch stört. Warum stört es Euch bei anderen?«
»Bei Euch ist es etwas anderes.« Melecay verschränkte die Arme vor der Brust und blickte trotzig durch den schmalen Spalt der Vorhänge nach draußen. »Ihr seid … reinen Herzens. Ihr seid vermutlich der einzige Mann in dieser und jeder anderen Welt, dem ich ohne Zweifel vertrauen kann. Gelegentlich halte ich Eure Ansichten für sehr naiv, oft haben wir Diskussionen über Richtig und Falsch, und doch habt Ihr immer zu mir gestanden.« Plötzlich sah er Wexmell wieder voller Entschlossenheit an. »Ich vertraue Euch mehr, als jedem anderen, weil er Euch geliebt hat.«
Wexmell senkte mit einem dicken Kloß im Hals ein Stück den Kopf, Tränen stiegen ihm in die Augen, als ihn die Endgültigkeit des Todes wieder einholte. Von nun an hieß es nur noch, Desiderius hatte ihn geliebt. Vergangenheitsform.
»Vergebung.« Auch Melecay ließ den Kopf hängen, er rieb sich den kräftigen Nacken, bis er rot wurde. »Es gibt Dinge, die ich Euch schwerlich erklären kann, weil ich als König derart viele Geheimnisse hüte, dass ich gelegentlich den Überblick verliere, nur damit ich die Krone behalte; damit ich mein Volk und mein Land vor Feinden schützen kann. Wisset aber, dass Ihr mir am Herzen liegt, und der Grund dafür war nicht ausschließlich Desiderius. Trotzdem habt Ihr durch ihn einen hohen Status bei mir erreicht. Er und ich … waren auch nicht immer einer Meinung, aber doch vom gleichen Schlag. Das ist alles, was ich Euch sagen kann und darf. Er versprach mir einst, dass Ihr und er immer auf meiner Seite stehen würdet, wenn ich bereit bin, Euch die gleiche Loyalität entgegen zu bringen. Er … bedeutete mir viel.«
Wexmell ahnte bereits seit geraumer Zeit, dass Melecay die Wahrheit erfahren hatte. Es war die Art, wie er Desiderius ansah, wie er versuchte, von ihm zu lernen, wie er seine Nähe gesucht hatte. Umso mitfühlender betrachtete er jetzt den jungen Mann. »Wir sind die letzten Freiheitskämpfer in einer versklavten und von Vorurteilen geplagten Welt, Großkönig. Es ist sogar unsere Pflicht, zusammen zu stehen. Wir sind vertragliche Verbündete und darüber hinaus enge Freunde. Familie. Nichts und niemand wird mich von meinen Verpflichtungen Euch gegenüber abhalten.«
Zum ersten Mal seit ihrer Abreise atmete Melecay entspannt durch, seine kräftigen Schultern sackten unter dem schwarzen Mantel ein Stück hinab. »Ich danke Euch, meine Ohren mussten es hören, obwohl mein Herz es bereits wusste. Die letzten Tage plagten mich grausige Vorstellungen davon, wie der Kaiser Euch ein Bündnis anbietet, eine Armee und Friedensabkommen, und das Ihr es annehmt.«
»Melecay«, seufzte Wexmell schwer, »ich verstehe Eure Sorgen, doch hinterlistig war ich bisher noch nie. Auch wenn wir oft verschiedener Moralansichten sind, und ich Eure Vorgehensweise im Kampf oft missbillige, so seid Ihr mir doch ein besserer Verbündeter als der Kaiser. Ihr und ich verabscheuen die Sklaverei. Wir beide stimmen doch zumindest darüber ein, dass jeder Mann das Recht darauf hat, frei zu sein. Der Kaiser will Nohva schon lange, er würde mir alles versprechen, um es zu bekommen, doch würde ich in seiner Schuld stehen, wäre Nohva nur ein Vasallenstaat. Was würde aus meinen Völkern werden? Sklaven? Das kann ich nicht zulassen.«
Melecay lächelte schwach, jedoch beruhigt.
»Ihr seht also, dass es immer ein Unterschied ist, wem man etwas schuldig bleibt. Gegenüber Bellzazar trage ich die gleiche Schuld wie Ihr, auch er rettete mein Leben, gab mir eine zweite Chance, doch er hat nie etwas dafür von mir zurückverlangt.«
Gedankenverloren starrte Melecay vor sich hin, er rieb langsam die Hände aneinander, als wolle er seine Finger wärmen. Er hauchte zu sich selbst: »Ich fürchte nur, er hat von mir etwas für mein Leben verlangt. Und ich habe es ihm gegeben.«
Wexmell runzelte neugierig die Stirn.
Besorgt sah ihn Melecay an. »Er rettete mein Leben, weil er wollte, dass ich den Thron besteige. Er sagte zu mir, vielleicht würde das nicht nur mich, sondern auch ihn retten. Und hier bin ich: König von Carapuhr …«
Lange sahen sie sich in die Augen, tauschten Sorgen und große Zweifel ohne jede Worte miteinander aus.
Bis Wexmell schließlich die Augen schloss und gefasst ausatmete. »Es war nie möglich, Bellzazars Absichten zu durchschauen, doch ich habe nie daran geglaubt, dass er je etwas durchweg Schreckliches mit uns vorhatte.«
»Nicht mit uns«, wandte Melecay ein, »mit der Welt, wie wir sie kennen.«
»Kann es denn noch schlimmer kommen?«, fragte Wexmell. Er hatte einen Scherz machen wollen, um die Stimmung aufzuhellen, doch er klang viel zu zynisch. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Trauer seine Worte nicht mehr beeinflusste.
Melecay zuckte mit den Achseln. »Sucht ihn einfach nicht, dann müssen wir uns vielleicht nie wieder mit derlei Sorgen rumschlagen. Ihr habt Wichtigeres zu erledigen. Obwohl ich gestehen muss, es reizt mich jeden Tag mehr, selbst die Kaiserkrone zu tragen.«
»Ich halte Euch nicht auf«, sagte Wexmell mit einem Schmunzeln. Er war nie Machthungrig gewesen. Alles, was er wollte, war die Kriege zu beenden, die Elkanasai heraufbeschwört, ehe sie Nohva erreichten.
Melecay schüttelte den Kopf, doch man sah ihm an, wie schwer ihm das Ablehnen fiel. »Nein«, sagte er entschlossen, »ich sehe mich auf Carapuhrs Thron. Außerdem hatte Euer Schurke Recht, Elkanasai würde mich nie akzeptieren. Davon abgesehen hasse ich diese Hitze. So sehr ich die Vorstellung auch mag, der Herrscher der größten Nation unserer bekannten Welt zu werden, weiß ich um meine Schwächen. Sie würden mich noch im ersten Jahr umbringen lassen, weil mein Hass auf sie, mich zu einem Tyrannen machen würde. Wir brauchen Stabilität, eine sichere Grenze, damit Carapuhr wieder erblühen kann. Auch wenn mir die Leben anderer recht wenig bedeuten mögen, meine Liebe zu meinem Land stand stets außer Zweifel. Carapuhr ist mir wichtiger als jede noch so mächtige Krone. Deshalb war ich auch erleichtert, dass Ihr von den Toten auferstanden seid. Ihr habt mich vermutlich, ohne es zu wollen, mit Eurem Überleben aufgehalten, die Welt zu erobern. Es ist besser so, auch wenn der dunkle Teil in mir nach so viel mehr verlangt. Carapuhr und mein Volk braucht mich, um zu überleben. Meine eigenen Wünsche sind jetzt nicht mehr von Belang.«
»Hört, hört.« Wexmell lächelte, stolz auf Melecays Einsicht. Er lehnte sich nach vorne und legte dem Großkönig eine Hand auf die Schulter. »Worte, gesprochen von einem wahren König.«
Melecay kämpfte mit einem glücklichen Lächeln, das derart niedlich wirkte,