Dann packt er sich sein Taschenmesser dazu, um nicht ganz unbewaffnet in den Wald zu gehen, und holt sich ein Seil aus der Garage seines Vaters. Das muss er allerdings unbedingt noch vor dessen nach Hause kommen wieder zurücklegen. Denn sein Vater merkt immer sofort, wenn etwas nicht an seinem Platz liegt und keiner darf auch nur ahnen, dass er sich in der Gegend herumtreibt, um nach kleinen Katzen zu suchen.
So bepackt schwingt er sich auf sein Fahrrad und fährt eilig durch die Straßen Ankums. Ihn treibt die Angst voran, für die kleinen Katzen schon zu spät zu kommen. Sein Gewissen macht ihm schon jetzt die schlimmsten Vorwürfe und er lässt wegen der Katze gar keinen anderen Gedanken mehr zu. Natürlich kann sie ihn nur wegen ihrer Jungen so in den Wald gelockt haben.
Diesmal nimmt er den direkten Weg über den Fahrradweg nach Westerholte und dann durch Grovern zum Wald. Er hat nun keine Angst mehr, der Katze zu begegnen, doch sie taucht auch nirgendwo auf.
Er stellt sein Fahrrad an den Baum, an dem sie damals das Fahrrad seiner Schwester gefunden hatten und wie immer, wenn er daran denkt, versetzt es ihm einen Stich in die Magengrube. Dann geht er, seinen Rucksack geschultert, in den Wald hinein. Diesmal braucht er sich noch nicht einmal sorgen machen, dass er zu viel Krach macht. Dennoch blickt er sich immer wieder um, damit er sicher sein kann, dass ihm keiner folgt. Denn das scheint ihm die einzige Gefahr zu sein, auf die er achten muss.
Endlich erreicht er die Tannen, unter deren tiefhängenden Ästen er sich hindurchwindet und geht den direkten Weg zur Alkenkuhle.
Langsam wird ihm doch etwas mulmig zumute. Ihm fällt das Feuerrad ein. Aber Saskia hatte ja gesagt, das käme nur um Mitternacht heraus und auch nur dann, wenn man den Alke dreimal ruft.
Auch wenn Gerrit versucht sich einzureden, dass das alles nur Unsinn ist, so spürt er doch eine seltsame Furcht, bei dem Gedanken an die Sage, durch seine Adern kriechen. Aber es ist nicht Mitternacht und er denkt ja gar nicht daran, den Alke zu rufen.
An der Kuhle angekommen, vergewissert er sich, dass er immer noch allein ist, bindet das Seil an einem Baum fest und wirft es in die Tiefe.
Es tut sich kein Schlund auf, der das Seil verschlingen will. Das macht Gerrit etwas Mut und er klettert in die Senke hinab, immer das Seil griffbereit neben sich.
Kurz darauf steht er auf dem tiefsten Grund, mitten in der weichen Einwölbung, die mit Laub bedeckt ist und kaum zwei Meter misst. Er blickt noch einmal verunsichert nach oben, aber es ist alles in bester Ordnung. Nichts geschieht ihm.
Das Laub unter seinen Füßen riecht feucht und muffig.
Gerrit sieht sich nach dem Nest der Katzen um. Doch es gibt keine kleine Ausbuchtung oder Höhle.
Er geht in die Knie, um aus diesem Blickwinkel besser sehen zu können. Doch da ist wirklich nichts.
„Missimissimissi“, ruft er leise und hofft, die Katze kommt zum Vorscheinen und er kann somit sehen, wo ihr Versteck ist.
Doch es erscheint keine Katze.
Gerrit ist ratlos. Er hatte sich so auf die kleinen Katzen gefreut und sich so sehr in den Kopf gesetzt, dass es sie gibt, dass er sich nun nicht damit zufriedengeben will, dass er sich geirrt hat. Er ruft lauter: „Missimissimissi.“
„Miau“, hört er plötzlich über sich und dreht sich um. Vor ihm steht die Katze am Rand der Kuhle und sieht mit glühenden, grünen Augen zu ihm herab.
„Missi, da bist du ja!“, ruft Gerrit und greift nach dem Seil, um sich wieder an den Aufstieg zu machen.
Plötzlich spürt er einen Ruck unter sich. Dann ein Rumoren unter den Füßen, als würde die Erde lebendig. Erschrocken reißt er die Augen auf und ein entsetzter Schrei dringt aus seiner Kehle. Sofort packt ihn die Panik, dass die Erde sich doch unter ihm auftun wird und er seinem sicheren Tod entgegensieht. In dem Moment verliert er auch schon jeglichen Halt und fällt.
Das Seil ruckt schmerzhaft in seinen Händen. Gerrit umklammert es krampfhaft und kann seinen Fall bremsen, was ihm fast die Schultern auszurenken droht. Das Seil schneidet ihm schmerzvoll in die Handflächen. Er schreit voller Panik um Hilfe und versucht mit den Füßen einen Halt zu erfassen.
Aber unter ihm scheint nichts zu sein, außer gähnende Leere.
„Ich muss mich hochziehen“, stammelt er, um sich Mut und Kraft zu geben. „Das habe ich doch in Sportunterricht auch schon geschafft!“ Die Worte immer wieder vor sich hinbrabbelnd, zieht er sich mit aller Kraft Zentimeter für Zentimeter nach oben. Er kann durch die Baumwurzeln und Blätter, die über das Loch ragen, durch das er eingebrochen war, den Himmel sehen. Seine Kräfte wollen ihn langsam immer mehr verlassen, doch er zieht sich weiter voran, fest daran denkend, dass er jetzt hier nicht sterben will. Auch lässt ihn plötzlich der Gedanke erschauern, dass er womöglich dort unten in die Skelette der anderen Kinder fallen wird.
Bald kann er den Rand der Kuhle sehen und sein Blick fällt auf die Katze, deren Schwanz hoch erhoben über den Rand lugt. Was sie dort oben macht, kann er nicht ausmachen. Aber sie würdigt ihm nicht einen Blick.
Gerade, als er sich noch einige Zentimeter mehr hochgeschoben hat und seinen Schweiß bis in die Schuhe laufen spürt, sieht er, worüber die Katze gebeugt steht und sich abmüht. Es ist sein Seil.
„Verdammtes Vieh!“, schreit er noch und dann sieht er ihren Blick und spürt, wie das Seil spannungslos wird.
Er verliert jeglichen Halt und stürzt mit einem gellenden Schrei in die Tiefe.
Eine unglaubliche Welt
Als Gerrit wieder zu sich kommt, glaubt er, dass er tot sein muss. Doch als er sich bewegt, schmerzen ihm sämtliche Knochen und das ist etwas, was doch eigentlich ein Toter nicht mehr fühlen sollte.
Tiefste Schwärze umgibt ihn. Nicht mal ein winziger Lichtstrahl dringt zu ihm hinunter, obwohl über ihm ein Loch sein müsste, durch das er hier hinuntergefallen war. Aber nichts dergleichen kann er erkennen. Vielleicht ist er doch tot?
Langsam setzt er sich auf und ihm wird klar, dass ihm zwar alles wehtut, er aber sonst keinen Schaden genommen hat. Er war tief gefallen, muss also recht weit unter der Erde sein.
Entsetzliches Grauen beschleicht ihn.
„Hilfe!“, ruft er, was allerdings mehr wie ein Krächzen aus seinem Mund dringt. Sein Hals schmerzt, und auch die ihn überkommende Hoffnungslosigkeit lässt seine Stimme schon im Keim ersticken, weiß er doch, dass ihn hier niemand hören wird. Wen soll es schon zu dieser dummen Alkenkuhle verschlagen? Außer …, wo ist die Katze geblieben?
Ihm stockt der Atem bei dem Gedanken, wie grimmig das Vieh sein Seil durchgebissen hatte. Ein Schauer überkommt ihn bei der Erinnerung daran, wie bösartig sie ihn anfunkelte, als sie bemerkte, dass er sich mit einem Seil gesichert hatte. Doch niemals hätte Gerrit gedacht, dass eine Katze so viel Verstand an den Tag legt, ein Seil durchzubeißen, damit ein Mensch abstürzt. So etwas macht doch keine normale Katze!
Das Grauen beschleicht Gerrit nun so sehr, dass er zu zittern beginnt. Schnell greift er hinter sich und bemerkt seinen tief in weiches, trockenes Laub gepressten Rucksack.
Laub! Ein Berg Laub hat seinen Sturz abgefangen. Es gibt immer etwas an den Stellen nach, zu denen er sein Gewicht verlagert. Weich und muffig liegt es unter ihm und er ist dankbar dafür. Damit hatte die Katze wohl nicht gerechnet.
Oder doch? Ist es vielleicht gar kein Zufall, dass so viel Laub hier auf einem Haufen liegt? Ist er vielleicht nicht der Erste, dessen Sturz es abgemildert hat?
Nina und all die anderen verschwundenen Kinder kommen ihm in den Sinn.
Voller Entsetzen daran denkend, das andere vor ihm diesen Sturz vielleicht nicht überlebt haben, reißt er die Schnur seines Rucksacks auf und lässt seine Finger hineingleiten, um nach der Taschenlampe zu suchen.
„Lieber