Ein Hauch von Nemesis. S.F. Chartula. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: S.F. Chartula
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738060768
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sich halt seine eigenen Verhaltensweisen schön und bald glaubte man sich auch seine eigenen Lügen, sie mussten dann nicht mal mehr sonderlich raffiniert sein. Es reichte, wenn sie bequem waren.

      So, jetzt die Jacke geschnappt, die Tasche (die man in weiser Voraussicht bereits am Abend gepackt hatte, irgendwie durchschaute man seine Selbstbetrügereien dann doch) unter den Arm geklemmt und raus, um noch den Bus zu kriegen. Ein Blick auf die Uhr gab Sicherheit: man befand sich in der täglichen Routine, das heißt man war mal wieder viel zu spät dran und überlegte sich schon die ersten Ausreden, während man zu laufen anfing.

      Ich bog gerade ums Eck, da machte das der Bus auch, doch leider aus der anderen Richtung, was hieß, dass noch gut 300 Meter zwischen uns lagen. Keine Unmöglichkeit diese Distanz zu überwinden und den Bus noch zu erwischen, allerdings nur unter der Prämisse, dass noch genügend Leute, die pünktlich waren, an der Haltestelle warteten. Taten sie auch. Ich erwischte also gerade noch mein Fortbewegungsmittel und ließ mich auf eine leere Sitzreihe fallen, warf meine Tasche neben mich und entleerte damit den ganzen Inhalt auf dem Sitz. Ach ja richtig, hatte gestern die Tasche ja offen gelassen, weil ich noch meine Verpflegung mitnehmen wollte, die nun noch wohlbehalten zu Hause im Kühlschrank lag. Naja ok, ich wollte eh abnehmen, ein bisschen zumindest. Und das entsprach ausnahmsweise einmal der Wahrheit, nur leider hielt dieser Vorsatz nicht lange genug an, um auch Wirkung zeigen zu können. Ich kannte mich: spätestens zum Mittag würde ich mir doch wieder etwas zu Essen holen und weil der Magen dann so knurrte, würde dies dann wieder üppiger ausfallen als ich eigentlich wollte. Eigentlich sollte ich mir jetzt schon eine Ausrede deswegen überlegen, also eine die auch Hand und Fuß hatte, nicht so eine schnell formulierte, die ich anfangs noch zehn Mal wiederholen musste, bis ich mir selbst ansatzweise Glauben schenkte. Aber nein, ich ging ja davon aus, dass ich heute eisern durchhielt, bis ich wieder zu Hause war. Ausgerechnet heute? Was unterschied denn heute von den letzten Tagen?

      Meine Habseligkeiten befanden sich nun wieder im Innern meiner Tasche und ich kam kurz ins Sinnieren: In all dem Chaos hatten meine Tage doch etwas beruhigend Wiederkehrendes, man könnte fast eine gewisse Kontinuität darin entdecken. Ich sagte schon, dass ich mir manchmal die Tatsachen schön redete.

      Da sich die Busfahrt noch etwas hinzog, beschloss ich, mich noch ein wenig meinem Mp3-Player zu widmen, nicht dass er besonders liebesbedürftig wäre, aber ich musste so ein teures Gerät ja auch nutzen, wenn ich schon meinte, ich bräuchte es unbedingt. Ja ich gestehe, dass ich mir in meinem jugendlichen Leichtsinn einen iPOD zugelegt hatte, der nach 2 Jahren allerdings auch schon wieder hoffnungslos veraltet war. Aber es gab ja wirklich Zeiten, wo man dachte, man könnte ohne einen Mp3-Player, der mindestens 120 GB Festplattenspeicher besaß, nicht mehr adäquat weiterleben, zumindest nicht ohne gehörige Einbußen der Lebensqualität hinnehmen zu müssen. 120 Gigabyte! Vor ein paar Jahren hatte ich nicht mal einen Computer, der so einen Speicher hatte. Und wann kam man schon mal in die Verlegenheit für drei Wochen nonstop Musik dabei haben zu müssen. Und im eigentlichen Sinne waren diese Geräte auch nicht dazu angetan, die Legalität von digitaler Musik zu fördern. Wer kaufte sich schon jeden Monat hundert Alben, um die immer mit sich herumschleppen zu können. Und ein Gerät, das nicht mal zu 5% voll gestopft war, war auch irgendwie eine Fehlinvestition. So auch bei mir: mittlerweile belegte meine gesamte Musik schon immerhin fast 40% des Speichers, man sieht die Anschaffung war notwendig und unumgänglich. Außerdem empfand ich den Gebrauch meines iPODs auch irgendwie ambivalent: Zum einen war es schon ein schickes Gerät von einer gewissen Qualität, andererseits störten aber auch die neidischen Blicke, wenn man es auspackte oder die unterstellte Überheblichkeit, dass man so ein Gerät nötig hatte. Man fühlte sich einfach snobistisch. Snobistisch kramte ich also das Gerät hervor und hörte so wenigstens noch die letzten paar Minuten ein bisschen Musik, als ob das allein schon der Garant für einen gelungenen Tag wäre. War es an den meisten Tagen ja eben gerade nicht, wobei ich nicht unbedingt glaubte, dass ausschließlich die Musik am Misslingen Schuld war. Obwohl. Diese Begründung könnte ich doch auch noch in mein Repertoire der Selbstbetrügereien aufnehmen, obwohl es selbst mich einige Anstrengungen kosten würde, mir das irgendwie plausibel einzureden. Aber vielleicht war auch einfach nur mein Player mit einem Fluch beladen, der sich bei jeder Benutzung mit aller Kraft auf den Hörenden übertrug? Hm, müsste man mal drüber nachdenken.

      Allerdings wäre es auch etwas einfach, meinen derzeitigen Gefühlszustand, wobei derzeitig mal wieder eine sich stetig verändernde Variable war, mit so einfachen Erklärungen wie Fluch oder Schicksal einen Sinn geben zu wollen. Es wäre ein weiterer Versuch vor einer wirklichen und ernst gemeinten Konfrontation mit sich selbst erneut zu fliehen und sich nicht in aller Klarheit und vor allem mit der nötigen Konsequenz mit sich selbst auseinander setzen zu müssen.

      Wie die letzten Töne in meinem Ohr verklungen waren, stieg sie wieder auf, diese unbestimmte Angst, die einen einmal mehr begleitete und die man schon fast vergessen zu haben glaubte. Ich bemühte mich nicht, sie zu definieren oder auch nur annähernd zu packen, ich wollte mich im Moment nicht mit ihr und damit gezwungenermaßen auch mit mir auseinandersetzen. Also drängte ich sie beiseite, was natürlich in keinster Weise eine angemessene Reaktion war, jedoch war es Routine und somit schon wieder ein kleiner Selbstbetrug: Ja, ich werde mich mit Dir in aller Ruhe befassen, wenn ich Zeit dafür fände, redete ich mir ein, wohl wissend, dass sich diese Zeit für eben diesen Zweck niemals einstellen würde, solange ich nicht selbst dafür Sorge trug, dass dem auch so war, was ich aber letztendlich doch nicht tun würde. Ich kannte mich.

      Ob dieser Gedanken schüttelte ich meinen Kopf, wie um sie aus meinem Inneren zu vertreiben, etwas zu heftig; dies bewirkte zwar nicht, dass sich meine Gedanken wieder zurückzogen, dafür aber, dass ich einige ungläubige Blicke von den anderen Fahrgästen erhielt, die nun ihrerseits, aber weniger heftig, den Kopf schüttelten. Auch eine gewohnte, fast schon routinierte Situation.

      Irgendwie schien sich sowieso das gesamte menschliche Leben auf einige Grundroutinen zurückführen zu lassen: Geburt, Schule, Ausbildung, Arbeit, Familie, Grundbesitz, Tod. Alles lief in genau festgelegten Bahnen ab, in denen der Einzelne relativ wenig bis keinen Gestaltungsspielraum hatte. Und jeder Ausbruch aus diesem festgelegten Muster wurde schon als absonderlich abgetan. Nur gut, dass niemand einen Blick in mein Inneres werfen würde, wie sollte mich je jemand verstehen, wenn ich dies die meiste Zeit selbst nicht tat.

      Aber es war Zeit auszusteigen, also packte ich mein snobistisches Gerät wieder in meine Tasche, warf mir diese über die Schulter und verließ den Bus, um einmal mehr wieder eine Gedächtnisstütze der besonderen Art zu bekommen. Plötzlich wurde mir wieder bewusst, dass ich mir eigentlich schon längst einen dieser kleinen praktischen Taschenschirme zulegen wollte, die genau für solche Situationen wie die jetzige geschaffen wurden. Da half es nur, den Kragen etwas hoch zu schlagen und den Kopf einzuziehen. So schlimm war es ja nicht, es regnete ja noch nicht mal richtig, sagte ich mir. Doch kaum hatte ich den Satz in Gedanken ausgesprochen und als habe das Wetter nur auf diese Reaktion gewartet, um mir meinen Irrtum einmal mehr vor Augen zu führen, wurden die Tropfen dicker und sie schienen nun auch schneller auf mich herab zu fallen. Was blieb mir also, als den Schritt zu beschleunigen und nicht darauf zu achten, dass der Mantel sich langsam schwerer anfühlte und doch einiges seiner vorherigen Behaglichkeit verloren hatte. Wie zum Trotz, um mir selbst zu beweisen, dass ich mich auch von solch widrigen Umständen nicht unterkriegen ließ, reckte ich den Kopf etwas höher und schimpfte und fluchte auf den Großen Regenmacher da oben, forderte ihn weiter heraus und verlachte ihn dabei, als das Wetter nicht noch schlechter wurde. Wenn ich mich dann bei dem Gespräch mit Wesen ertappte, an die ich eigentlich nicht glaubte, wurde mir wieder einmal die ganze Irrsinnigkeit des Gesagten bewusst, die ich nicht einmal gutgläubig mit Selbstgesprächen entschuldigen konnte.

      Nach unendlich langem Gemurmel und mantrahaften Verwünschungen sämtlicher lebenden oder schon verstorbenen und abgelösten überirdischen Wesenheiten oder deren Stellvertreter, kam ich endlich im Büro an. Deutlich durchnässt und mit zunehmender schlechter Laune, die sich seit Verlassen des Hauses nochmals deutlich gesteigert hatte, passierte ich die Pforte und reihte mich ein in die gesichtslose Phalanx mehr oder minder motivierter Bürohengste, die so von der Wichtigkeit Ihres Tuns überzeugt zu sein schienen, dass man beinahe glauben könnte, sie arbeiteten für eine höhere Sache als der bloßen Gewinnmaximierung eines Konzerns. Der Eifer und die Geschäftigkeit, die Dienstbeflissenheit und