Der geheime Pfad von Cholula. Michael Hamberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Hamberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847663614
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Treppen hoch zum zweiten Stock. Ich folgte ihm genauso schnell, konnte aber nicht verhindern, dass er in ein Zimmer eindrang und eine schwere Gittertüre schloss, die ich nicht öffnen konnte. Dort hinter dieser Gittertüre, für mich im Moment unerreichbar, sah er mich hasserfüllt an. Dann sprach er, wobei man diese knurrende Laute in Verbindung mit Bewegungen der Arme, des Kopfes und teilweise auch des kompletten Körpers wohl kaum als „Sprache“ definieren konnte. Trotzdem verstand ich ihn perfekt. Überrascht war ich, dass ich ihm sogar auf die gleiche Art antworten konnte. Mir fiel zu diesem Zeitpunkt auf, dass ich in meiner zweiten Natur noch niemals gesprochen hatte. War dies also die Sprache der Monster dieser zweiten Natur? Er sagte:

      „Du bist der Indio aus Neuspanien, den ich nicht töten konnte!“

      „Ja, der bin ich und jetzt ist die Zeit meiner Rache gekommen!“

      „Du bist also auch ein Werwolf geworden. Das ist köstlich! Wie hast Du es geschafft, Dich zu verbergen, damit Du bis hierher vordringen konntest?“

      Ich antwortete nicht sofort. Das war also der Name der zweiten Natur. „Werwolf“. Das erklärte natürlich alles. Er sah mich an, dann fuhr er in Plauderton fort. Es schien ihn offensichtlich sehr zu amüsieren, einen weiteren Werwolf gefunden zu haben, woraus ich schloss, dass es sehr wenige Menschen mit dieser zweiten Natur zu geben schien.

      „Nach mir bist Du der zweite Werwolf, den ich je gesehen habe. Ich scheine Dich irgendwie angesteckt zu haben. Also ich bin schon seit Geburt ein Werwolf.“

      Ich musste ein ungläubiges Gesicht gemacht haben, denn er begann laut an zu lachen. Dann fuhr er fort:

      „Lass mich dir erzählen, wie es dazu kam: Als meine Mutter hochschwanger zu mir war, erkrankte ihre Schwester, die in Córdoba, einer Stadt im Süden von Spanien, wohnte. Sie bat meine Mutter um ihren Beistand. Da meine Mutter ihre Schwester sehr liebte, reiste sie trotz ihres Zustands dorthin, um ihrer Schwester zu helfen. Sie kam jedoch dort niemals an. Ziemlich genau in der Mitte des Weges kam sie mit ihrer Kutsche und ihrem Hofstaat in einen finsteren Wald. Plötzlich hörten sie ein seltsames Heulen. Wölfe gab es zu der Zeit sehr viele in den Wäldern von Spanien, aber dieses Heulen jagte meiner Mutter und ihren Begleitern einen gewaltigen Schrecken ein. Den Pferden der Kutsche offensichtlich auch, denn sie gingen durch. Trotzdem kam das Heulen immer näher, bis plötzlich auf einem Hügel direkt vor ihnen ein gigantischer schwarzer Wolf mit grell leuchtenden Augen stand. Die Pferde scheuten. Dadurch wurde der Wagen umgeworfen. Meine Mutter wurde aus dem Wagen geschleudert. Noch bevor die Soldaten, die meine Mutter zu bewachen hatten, reagieren konnten, sprang der Wolf meine Mutter an und biss sie direkt in den Bauch. Dadurch platzte die Bauchdecke auf, was mehr oder weniger meine Geburtsstunde war. Meine Mutter starb natürlich augenblicklich an dieser gewaltigen Verletzung. Der Wolf hatte es aber offensichtlich auf mich abgesehen und wollte gerade nach mir schnappen, als er von Speer des Hauptmannes getroffen wurde. Der Speer schien in nicht zu beeindrucken, er verletzte ihn nicht einmal, aber als die anderen Soldaten auch noch mit gezogenen Waffen ankamen, dann gab er sein Vorhaben auf und floh.

      Natürlich gab man mir keine Chance zu überleben. Zu früh und auf diese Weise geboren, ohne Mutter. Aber trotzdem überlebte ich. Ich war jedoch anders, als alle anderen Kinder. Ich war viel kleiner, als Knaben meines Alters, trotzdem waren sie mir an Körperkraft weit unterlegen. Sie hatte sogar Angst vor mir, was ich natürlich sehr genoss. Ich war ein Marqués, weshalb es sich niemand wagte, gegen mich zu stellen. Die Kinder mussten also mit mir spielen, auch wenn es mir die größte Freude bereitete, sie zu quälen. Ich kam auch nicht in eine normale Schule, sondern bekam einen Privatlehrer, aber weil mich seine Lektionen nur langweilten, tötete ich ihn. Mein Vater, der ganz im Gegenteil zu mir ein herzensguter Mensch war, war durch meine aggressive Wesensart zwar geschockt, aber da ich der einzige Sohn seiner geliebten Frau war, akzeptierte er mich trotzdem. Und als ich 14 Jahre alt war, gab er mich in eine Militärschule. Dort war ich dann erst voll in meinem Element. Ich konnte kämpfen, quälen und töten, ganz so, wie ich wollte. Den Rest kennst Du ja.“

      „Was bedeutet ‚Werwolf’?“

      „Woher der Begriff Werwolf stammt, weiß ich nicht. Er kommt irgendwo aus dem Norden von Europa. Dort scheint es weitere Werwölfe zu geben, aber gesehen habe ich noch keinen, obwohl ich zweimal dorthin gereist bin. Es gibt zwar Legenden über Wölfe mit unvergleichlicher Stärke, Intelligenz und Überlegenheit. Aber dies sind trotzdem noch eindeutig Wölfe und keine Wolfsmenschen. Ich habe niemals gehört, ist, dass es weitere Menschen gibt, die wie ich dieses neuartige Werwolf Gen in sich tragen. Ich bin der erste dieser speziellen Art. Und jetzt natürlich Du.“

      „Auch ich scheine anders zu sein, denn am Tag bin ich ein normaler Mensch. Erst in der Nacht verwandle ich mich in diese zweite Natur. Du dagegen scheinst offensichtlich am Tag und bei Nacht in dieser Gestalt zu sein.“

      Der Winzling begann zu lachen. Irgendetwas schien ihn köstlich zu amüsieren. Verwirrt sah ich ihn an. Etwas Wichtiges musste mir entgangen sein. Ich hatte das Gefühl, dass der Winzling mit seiner Geschichte nur versucht hatte, Zeit zu gewinnen. Aber Zeit wofür? Da fiel mir ein, weswegen ich eigentlich gekommen war. Ich begann deshalb wie rasend an der Gittertüre zu zerren. Es gelang mir auch, die Gitter zu verbiegen, aber die Türe ging nicht auf, also schrie ich ihn an:

      „Du Ausgeburt der Hölle, gib mir meine Tochter zurück!“

      „Ach deshalb hast Du mich verfolgt. Nein, Deine Tochter kann ich Dir nicht zurückgeben, denn sie gehört mir.“

      „Wo ist sie?“

      Der Winzling lachte laut auf und deutete hinter mich. In diesem Moment sprang mich etwas an und verabreichte mir einen gewaltigen Schlag, der mich zu Boden schleuderte. Vor mir stand ein weiterer Werwolf. Der Winzling wieherte vor Freude und sagte:

      „Ach, habe ich vergessen zu erwähnen, dass es noch einen weiteren Werwolf gab, den ich geschaffen habe? Es ist Deine Tochter. Sie ist übrigens wie Du. Am Tage ein schwacher Mensch, in der Nacht ein kraftvoller Werwolf!“

      Vor Schreck starr blickte ich in die Augen des zweiten Werwolfs. In diesem Moment öffnete der Winzling die Türe und griff mich ebenfalls an. Das riss mich aus meiner Lethargie. Ich spürte förmlich, wie die Wut in mir hoch kochte. Ich sprang auf die Beine, packte den Winzling und biss ihm in die Kehle. Zu meiner Überraschung konnte ich jedoch die Haut selbst mit meinen scharfen Zähnen nicht durchtrennen. Im selben Moment bekam ich einen weiteren Schlag von meiner Tochter. Ich stieß sie weg, dann attackierte ich wieder den Winzling. Mit meiner ganzen, gewaltigen Kraft schlug ich auf ihn ein. Wieder und wieder, bis mich meine Tochter erneut angriff. In meiner Wut schlug ich sie diesmal. Sie flog rückwärts auf die Treppe zu und stürzte nach unten. Der Winzling schrie auf und wollte ihr folgen, aber er kam nur einen Schritt weit, bevor ihn ein weiterer gewaltiger Schlag von mir traf. Er stürzte zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Ich sprang auf ihn und schlug wie rasend mit meinen Krallen auf ihn ein. Ich biss ihn ebenfalls, aber keines dieser gewaltigen Gewalteinwirkungen schien ihn ernsthaft zu verletzen. Trotzdem konnte ich nicht aufhören, ihn zu schlagen. Ich hatte mich in eine unkontrollierbare Wut hineingesteigert. Seine Gegenwehr erschöpfte zusehends, bis sie ganz erlahmte. Er sah mich mit seinen grausamen Augen an. Dann lächelte er. Er spuckte mir mitten ins Gesicht. Ich schlug ihn mit beiden Händen gleichzeitig auf dem Brustkorb. Und dann sah ich es. Eine kleine Verletzung. Ein kleiner Tropfen Blut, der aus einer winzigen Verletzung tropfte. Er war also doch verletzlich, wenn auch nur unter größter Gewaltanwendung. Sofort nahm ich meine Kralle und bohrte sie in diese kleine Wunde. Jetzt grinste der Winzling nicht mehr, sondern schrie vor Schmerzen auf. Er schlug um sich und versuchte, mich abzuwerfen. Aber nun hatte ich meinen Ansatzpunkt gefunden. Die Kralle drang tiefer in die kleine Wunde ein und vergrößerte sie weiter. Der Winzling schrie jetzt nicht mehr, sondern winselte, wie ein Hundewelpen. Ich riss mit der Kralle an der Wunde. Das Blut floss stärker. Aber kaum hatte ich die Kralle aus der Wunde genommen begann sich die Wunde wieder zu schließen. Trotzdem war der Riss jetzt groß genug, dass ich zwei Krallen in die Wunde drücken konnte, was ich auch augenblicklich tat. Dann zog ich die Wunde mit meiner ganzen Kraft auseinander. Zuerst passierte nichts, nur dass der Winzling immer schriller schrie, bis letztendlich die Wunde mit einem hässlichen Geräusch von Brustansatz bis zum Bauch aufriss. Im selben Moment biss ich zu. Genau in die offen liegenden Eingeweide.