Orlando nahm sich ein Zimmer in einem großen und edlen Hotel. Er hatte sich als Alexander Schuster angemeldet. Alexander Schuster war die Person, die sich unauffällig überall aufhalten konnte, während Aden Hall jedem im Untergrund bekannt war. Seinen wahren Namen hielt er aus persönlicher Eitelkeit, aber auch aus instinktiver Vorsicht geheim.
Orlando betrat die Hotelsuite und warf seine Koffer auf das große Bett. Seinen Waffenkoffer legte er vorsichtshalber unter das Bett, während er den Koffer mit seiner Kleidung auf dem Bett öffnete. Dann ging er sofort ins Badezimmer. Nach dem Besuch bei Baran musste er sich erst einmal säubern, denn er hatte den Gestank des Hauses noch immer in der Nase. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ die Badewanne voll laufen, während er sich seiner Kleidung und seiner 45er Magnum entledigte. Als er nackt dastand, roch er an der Kleidung, an der seiner Meinung nach noch immer der Gestank haftete, und beschloss, sie weg zu schmeißen. Da sie ohnehin Teil seiner Tarnung gewesen war, bedauerte er den Verlust nicht. Es war eher die Kleidung eines alten Mannes, als die eines 30-jährigen, sportlichen Mannes. Während das Wasser weiterhin in die Wanne rauschte, öffnete er erneut seinen Reisekoffer und nahm sich neben einer frischen Boxershorts ein einfaches T-Shirt und eine lockere Jeans heraus. Dann ging er ins Badezimmer zurück und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Er sah nicht annähernd so müde aus, wie er sich fühlte. Sein Körper hatte sich längst an das viele Fliegen und die wenigen Stunden Schlaf gewöhnt. Nachdem er bei Baran gewesen war und sich wieder an seine ausgetragenen Kämpfe erinnert hatte, betrachtete er seit langer Zeit die Narbe über seiner linken Augenbraue wieder. Damals war er in einer Bar in eine Messerstecherei geraten, weil er jung und übermütig gewesen war und sich nicht um die Konsequenzen seines Handelns gekümmert hatte. Er hatte Spaß an Schlägereien gehabt und die Narbe, die so unauffällig geworden war, dass er sie beim Blick in den Spiegel gewöhnlich übersah, erinnerte ihn an sein altes Ich. Sein Körper trug noch mehr Narben, überall und kaum eine davon war durch Kindereien entstanden. Er fuhr sich müde mit der Hand übers Gesicht. Einen Tag lang hatte er sich nicht rasiert und schon waren seine Wangen überall von schwarzen Stoppeln geziert. Da er keine Lust hatte schon wieder zum Schlafzimmer zu gehen, um nach seinen Hygieneartikeln zu suchen, beschloss er, den Bart vorerst stehen zu lassen. Vielleicht würde ihm dies im Irak zum Vorteil gereichen. Auch seine Kopfhaare waren wieder sichtbar geworden, doch diese würde er nicht wachsen lassen. Er hatte seit Jahren keine Frisur mehr gehabt. Sich den Kopf zu rasieren war einfach praktischer. Er wandte den Blick ab und stieg ins heiße Wasser in der Badewanne.
Am nächsten Tag begann Orlando nach einen Mann namens Edgar Ambrose zu suchen. Er fragte bei seinen Leuten nach ihm, aber keiner schien auch nur von ihm gehört zu haben. Ambrose war also schwieriger zu finden, als Orlando gehofft hatte und so dauerte es weitere zwei Tage, bis er die Adresse herausgefunden hatte. Zu seiner Schande hatte er dazu nur die Gelben Seiten nutzen müssen, denn Ambrose war wie alle gewöhnlichen Bürger Londons im Register eingetragen.
Dann endlich suchte er ein elegantes Viertel in London auf um seinen Verbündeten zu treffen. Edgar Ambrose lebte in einer kleinen Villa, zusammen mit seiner Frau, deren Schwester und den eigenen zwei Kindern, die ebenfalls weiblich waren. Der Vorgarten war so sauber und gepflegt, dass Orlando schlussfolgerte, dass Ambrose einen Gärtner beschäftigte. Vielleicht wollte er wie ein typischer Brite wirken. Es wunderte Orlando in jedem Fall, dass dieser Mann sich so öffentlich prunkvoll präsentierte. Andererseits war das Offensichtliche manchmal schwerer zu erkennen als das Verborgene. Immerhin hatte auch er drei Tage gebraucht, bis er überhaupt auf die Idee kam, die öffentlich zugänglichen Informationen zu nutzen. Als er sich nun dem Haus näherte, erkannte er jedoch, dass Ambrose nicht ganz so leichtsinnig war, wie er beim ersten Hinsehen schien. Am Haus waren überall Kameras installiert und Orlando war sich sicher, dass sein Geschäftspartner auch Sicherheitspersonal beschäftigte, die die Kamerabilder auswerteten und die Familie zu beschützen wussten.
Orlando klopfte an die Tür und wartete, dass ihm der Holländer öffnete. Dass er dabei gefilmt wurde, gefiel ihm gar nicht. Er hatte es nicht gerne, wenn seine Anwesenheit von anderen bewiesen werden konnte. Doch vorerst hatte er keine Wahl.
Als die Tür von einem Butler geöffnet wurde, konnte sich Orlando ein Grinsen nicht verkneifen. Edgar Ambrose schien seinen Reichtum in vollem Ausmaß zu nutzen. Die beiden Männer machten seit vielen Jahren gemeinsame Geschäfte und eigentlich war Edgar nur durch Orlandos Hilfe und Unterstützung zu Geld gekommen. Es wunderte ihn, dass dieser Mann, der sein Geld nicht ehrlich erarbeitet hatte, nun so offenkundig mit selbigen um sich warf. Die Übertriebenheit dieser Tatsache amüsierte ihn dennoch.
„Sir? Wen darf ich anmelden?“, fragte der Butler und betrachtete Orlando dabei beinahe gleichgültig. Es war ihm nicht anzumerken, wie er seinen Gegenüber einschätzte.
„Alexander Schuster.“, antwortete Orlando routiniert. Es war nicht immer leicht zwischen den verschiedenen Identitäten zu wechseln, aber mit den Jahren gewöhnte man sich daran. Auch gab es meistens nur zwei Identitäten, die Orlando nutzte und dies war nicht schwer zu merken.
„Bitte haben Sie einen Moment Geduld, Mr. Schuster.“, bat der Butler höflich. Er ließ Orlando in der Empfangshalle unmittelbar hinter der Haustür warten und verschwand im Haus um seinem Arbeitgeber den Gast zu melden.
Orlando wartete geduldig, immerhin war er nun nicht mehr den Kameras, die ihn nervös gemacht hatten, ausgesetzt. Diese Prozedur des Butlers kannte er vom Haus seiner Eltern und war deshalb daran gewöhnt. Seine Eltern hatten so viele Bedienstete, dass sich Orlando auch nach all den Jahren nicht jeden einzelnen Namen hatte merken können.
„Bitte folgen Sie mir, Sir.“, sagte der Butler und hielt ihm die Tür zum Nebenraum auf. Nachdem Orlando eingetreten war, er befand sich in einer Art Kaminzimmer, schloss der Butler die Tür wieder und deutete ihm mit ausgestrecktem Arm den Weg.
„Mr. Ambrose freut sich sehr über Ihren Besuch, Sir.“, merkte er noch an.
Orlando lächelte spöttisch. „Das kann ich mir vorstellen.“, kommentierte er, sicher, dass Ambrose es auf einen weiteren, gewinnbringenden Auftrag abgesehen hatte.
Als der Butler ihn in das Esszimmer geleitete, stellte Orlando fest, dass er Edgar Ambrose gerade beim familiären Abendessen gestört hatte. „Verzeihen Sie die Störung. Bitte, essen Sie nur weiter.“, sagte er an den gesamten Tisch gewandt. Dann drehte er sich kurz zu dem Butler um und steckte ihm ein Trinkgeld zu, was mehr affektiv, denn bewusst geschah. Vermutlich hatte er in den vergangenen Wochen zu häufig in Hotels genächtigt, denn er hatte sich an das Trinkgeldgeben gewöhnt.
„Alexander, bitte nimm an meinem Tisch Platz.“, sagte Edgar freudig. Nachdem Orlando seiner Aufforderung nachgekommen war, richtete sich der Hausherr an den Butler und wies ihn an, dem Gast ein feines Mahl aufzutischen und ein Glas mit Wein auszuschenken.
Orlando betrachtete derweil Ambroses Familie. Während der Hausherr selbst einen vom Alkohol gerundeten Körper hatte, waren sowohl seine Frau, als auch die Kinder ungemein schlank. Edgar hatte aschblondes Haar gehabt, das mittlerweile nur noch grau war und schon die Ansätze einer Glatze zeigte. Seine Frau hingegen hatte hellblondes Haar, so wie eine ihrer Töchter. Die andere hatte rotes Haar.
„Also, Alexander, lass mich dir meine Familie vorstellen.“, sagte Edgar dann. Er zeigte auf die schlanke Blondine, die eine schmale Brille trug und ihre Haare streng nach hinten gebunden hatte. „Das ist meine bezaubernde Frau Jessica.“, sagte er lächelnd.
Orlando deutete eine Verbeugung an und erwartete, dass die Frau etwas sagen würde, doch sie schwieg verlegen und nickte nur leicht mit dem Kopf.
„Daneben sitzt meine 14-jährige Tochter Clarissa.“, fuhr er fort.
Orlando lächelte dem blondhaarigen Mädchen bemüht freundlich zu. „Hallo.“, sagte er, woraufhin sie verlegen ihr Haupt senkte. Er hatte das Gefühl, in der Zeit zurück gereist zu sein, in eine Zeit, in der Frauen das Sprechen in der Anwesenheit von Männern nur bedingt zugestanden worden war.
„Dann kommt meine Schwägerin Meredith.“
Die