Corona. Daniel Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Daniel Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750232068
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mich in der Reichshauptstadt Berlin aufzuhalten. Beide sollen wir nach Sachsenhausen verlegt werden.

      Freitag, 06. März 2020

       Daniel

      Was wollen der Schulleiter der Realschule und seine Stellvertreterin von Frau Bergmann? Na, da werde ich doch mal meine Lauscher aufspannen und ganz langsam vorbeilaufen.

      „Sie müssen jetzt die Leitung für den Gymnasialteil übernehmen, Frau Bergmann. Herrn Kobin haben wir gerade nach Hause geschickt und Frau Herz ist noch nicht da. Und dann müssen sie jetzt, so sind die Vorschriften, als dienstälteste Kollegin einspringen.“

      Mal schauen, was kommt.

      „Liebe Schülerinnen und Schüler, dies ist eine Durchsage für alle Dietrich-Bonhoeffer-Schulen, Weinheim. Alle Schülerinnen und Schüler, die in den Faschingsferien in Südtirol waren, gehen bitte jetzt nach Hause und kommen erst am 16. April zurück in die Schule. Kollegen, die in den Faschingsferien in Südtirol waren, kommen bitte in das jeweilige Direktorat.“

      „War einer von euch in Südtirol?“

      Karl meldet sich.

      „So Karl, dann gehst Du jetzt bitte nach Hause.“

      Allgemeine Aufregung.

      „Hat der ein Schwein“, „Das ist ungerecht, wir wollen auch zu Hause bleiben.“

      „Wann soll ich wiederkommen, Herr Lehmann? Am 16. April?“

      „Nein, der Schulleiter der Realschule hat sich bestimmt vertan und meinte 16. März. Ich schau mal in meinem Kalender. Ah, wartet mal. Es kommt wieder eine Durchsage.“

      „Liebe Schülerinnen und Schüler, dies ist eine Durchsage für alle Dietrich-Bonhoeffer-Schulen, Weinheim. Alle Schülerinnen und Schüler, die in den Pfingstferien in Südtirol waren, gehen bitte jetzt nach Hause und kommen erst am 16. März zurück in die Schule. Kollegen, die in den Pfingstferien in Südtirol waren, kommen bitte in das jeweilige Direktorat.“

      Allgemeines Gelächter.

      „Was meint ihr Kinder: Ich war in den Pfingstferien auch in Südtirol wandern. Muss ich dann auch ins Direktorat?“

      Lachen.

      „Wieso macht unser Schulleiter denn nicht die Durchsage?“

      „Der war in den Ferien auch in Südtirol Skifahren. Hab ich gehört. Seid mal still. Jetzt kommt wieder eine Durchsage. Mal schauen, ob er es diesmal hinbekommt.“

      Ansage.

      „Also, alles Gute, Karl.“

      Karl geht fröhlich zur Tür und winkt. Sein Freund sitzt mit verschränkten Armen am Tisch.

      „Sag mal Franz, willst Du Dich nicht auch von Deinem Kumpel verabschieden?“

      „Ne, der hat immer Glück. Erst darf er Skifahren und dann kriegt er noch eine Woche Extra-Urlaub.“

      Pause.

      Was machen denn Kevin und Marcel aus meiner 9.Klasse im Sekretariat? Und warum weinen sie? Ich meine, Jungs weinen nicht so schnell. Jedenfalls nicht öffentlich. Oh Scheiße, mir schwant Böses. Die waren bestimmt auch in Südtirol in den Faschingsferien zum Skifahren.

      „Herr Lehmann, wir dürfen nicht mit nach Berlin.“

      „Ja Scheiße, das tut mir ganz schrecklich leid. Aber wenn ihr in Tirol wart, dann dürft ihr an keiner Schulveranstaltung teilnehmen.“

      „Bitte reden Sie noch einmal mit Frau Herz.“

      „Wir haben sowieso gleich ein Treffen wegen der Berlinfahrt. Aber ich denke, dass es wohl dabei bleiben wird. Wenn nicht sowieso die ganze Berlinfahrt wegen Corona abgesagt wird.“

      „Bitte Herr Lehmann. Alle fahren aus unserer Klasse, nur wir nicht. Und wenn, dann sorgen Sie wenigstens dafür, dass keiner fährt.“

      Beim Weggehen höre ich noch „Dreckschinesen!“

      Treffen im Konferenzzimmer.

      Die stellvertretende Schulleiterin Frau Herz sitzt wie eine Schülerin zum Nachsitzen im Konferenzzimmer. Oh, und am Gesichtsausdruck meiner lieben Kollegin und Freundin Steffi sehe ich, dass sie schon wieder gut on fire ist.

      „Also, jetzt wo Herr Lehmann da ist, können wir ja anfangen.“

      Ich setze mich neben Steffi, die gleich das Wort er- und Frau Herz angreift.

      „Du willst also wirklich alle 9.-Klässler des Bonhoeffer-Gymnasiums nach Berlin fahren lassen. Ich finde das vollkommen unverantwortlich.“

      „Es fahren ja nicht alle, Steffi.“

      „Ja, bis auf die paar Schüler, die in Südtirol waren. Ich habe keine Lust, am Ende mit 120 Schülerinnen und Schülern im Hotel in Quarantäne zu sitzen.“

      „Dazu wird es ja nicht kommen. Jetzt gehen wir einfach mal von dem Besten aus.“

      „Und wer informiert uns, wenn sich bis Sonntag die Lage noch ändert?“

      „Steffi, ich kann Dir ja die Nummer vom Gesundheitsamt in Heidelberg geben. Die sind auch für uns in Weinheim zuständig. Da kannst Du ja am Sonntag nochmal anrufen.“

      „Oh, ich werde da bestimmt nicht anrufen, das ist eindeutig eine Aufgabe der Schulleitung.“

      Gut, dass die große Pause zu Ende ist. Sonst würde Steffi noch platzen.

       Samstag, 24. Dezember 1938

       Nun bin ich schon eine Weile in Sachsenhausen. Gestern ist mein Onkel gestorben. Er hat die schreckliche Kälte in den Baracken und die Behandlung durch die SS-Männer nicht verkraftet. In dem Lager klammern sich alle inhaftierten Juden an eine Hoffnung: es heißt, wenn die Verwandten ein Visum zur Ausreise und eine Schiffspassage organisieren, dann darf man das Lager verlassen. Wie soll meine Frau in Prag mir ein Visum besorgen? Ohne Geld? Der Scheck, der liegt bei meinem Cousin. Wenn er nicht verbrannt ist, denn ich habe keine Ahnung, was mit der Ladenwohnung passiert ist, nachdem wir abgeholt wurden. Ich werde hier verrecken. Wie ein Viech. Ich will nicht in einem Lager sterben.

      Montag, 09. März 2020

       Julius

      Vorstellungsgespräch im ehemaligen Stasi-Gefängnis.

      Ich glaube, ich war bislang ganz gut. Vorstellungsgespräche sind ja sonst nicht so mein Ding. Ich mag es nicht, mich zu verkaufen. Aber so läuft das Spiel eben. Das Zimmer hier sieht aber auch mehr nach einem Verhörzimmer aus.

      „Herr Dr. von Witzleben. Die Zeit geht nun zu Ende, können Sie noch einmal kurz zusammenfassen, warum Sie der geeignete Kandidat für die Stelle sind?“

      „Gerne. Ich arbeite nun schon fünf Jahre in der Gedenkstätte Hohenschönhausen und führe Gruppen durch das ehemalige Stasi-Gefängnis. Durch meine Promotion zum Thema Der Einfluss der Adenauerschen Arbeitsmarktpolitik auf den Mauerbau 1961 und meine Tätigkeit an der Freien Universität Berlin bin ich zusätzlich umfassend über den aktuellen Forschungsstand der Deutsch-Deutschen Geschichte informiert.“

      „Und es stört Sie nicht, dass die Stelle nur einen Umfang von 30 Stunden hat?“

      „Nun gut, Sie meinen wohl, dass nur 30 Stunden vergütet werden? Aber nein, das macht mir nichts. Als Historiker bin ich es gewohnt. Für meine Promotion hatte ich auch nur eine halbe Stelle und habe dennoch voll für meinen Professor gearbeitet und eine ganze Promotion geschrieben.“

      Freundliches Lachen.

      „Im Ernst, 30 Stunden Archivarbeit und dann noch die Führungen, das ist ideal für mich.“

      „Ich danke Ihnen, Herr Dr. von Witzleben.“