Corona. Daniel Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Daniel Lehmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750232068
Скачать книгу
An der Wand hängt ein Ölgemälde. Eine Yacht. Arkona. Die Yacht des Herrn von Witzleben.

       Dieser Herr von Witzleben schaut das Material, eine verbesserte Form des Bakelits, genau an und hält es gegen eine Lampe. Das Material ist so dünn, dass das Licht hindurchfällt. Sein Blick fällt auf mein Patent. Er nickt zufrieden und greift nach seinem Scheckbuch. Wir geben uns die Hand. In diesen verrückten Zeiten hätte ich keinen besseren Preis bekommen können, denn meine Fabrik ist, genauso wie das Sudetenland, bereits heim im Reich. Er begleitet mich zu meinem Auto. Im Rückspiegel sehe ich, wie er in seiner Villa am Wannsee verschwindet. Jetzt fahre ich zu meinen Verwandten nach Charlottenburg, hole morgen das Geld von der Bank, fahre zurück nach Prag und schaue, dass ich ein Visum für mich, meine Frau und meine beiden Töchter, Eliska und Lea, bekomme.

      Montag, 10. Februar 2020

       Daniel

      Gleich beginnt der Unterricht. Heute wird Julius 39. Ob ich ihm eine Nachricht schicke? Warum nicht? Aber was schreibe ich Ihm? Es ist ja schon eine Weile her, dass wir Kontakt hatten. Ob er wohl einen Freund hat? So, jetzt bin ich dran mit Kopieren. Wochenrückblick für meine 9. Klasse. Ist immer eine gute Möglichkeit, die nach dem Wochenende wieder auf Spur zu bringen.

      10 Minuten später.

      „Guten Morgen, liebe Schülerinnen und Schüler.“

      „Guten Morgen, lieber Herr Lehmann.“

      „So, bitte setzen, wir beginnen mit dem Wochenrückblick, was war wichtig in der letzten Woche? Was habt ihr so mitbekommen… Ja, Kevin.“

      „Haben Sie nochmal das Blatt für die Berlinfahrt?“

      „Warum?“

      „Ja, meine Mutter hat noch nicht überwiesen und ich finde das Blatt nicht mehr.“

      „Oh Mann, Kevin. Kann es nicht jemand fotografieren und in den Klassen-Chat bei whatsapp stellen?... Danke, Julia. Marcel?“

      „Ich wollte sagen, was letzte Woche passiert ist.“

      „Ja?“

      „Ein FDP-Politiker wurde mit Stimmen von der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Das war ein großer Skandal.“

      „Sehr gut, Marcel.“

      Gelächter.

      „Warum lacht ihr denn… Ach so, die Blätter mit dem Wochenrückblick sind ja schon verteilt.“

      „Ich hab das auch so gewusst.“

      Gelächter.

      „Na, dann fang mal an Marcel.“

      Eine halbe Seite später.

      „Amy, machst Du bitte weiter?“

      „Somit wurde Kemmerich dank der AfD zum neuen Ministerpräsidenten Thüringens gewählt, obwohl alle anderen Parteien zuvor ausgeschlossen hatten, mithilfe der AfD in die Regierung zu kommen. Die Thüringer AfD gilt auch aufgrund ihres Landesvorsitzenden Björn (Gauland / Höcke /Meuthen) als besonders weit rechts orientiert.“

      „Amy, Du musst einen Namen auswählen.“

      „Gauland?“

      „Ne.“

      „Höcke?“

      „Bingo!“

      „Dann kommen wir jetzt zur Rubrik „richtig oder falsch“. Jennifer.“

      „Aus aller Welt: Rechts findest du Meldungen aus dem Ausland. – Kreuze an, ob die Meldungen richtig (R) oder Fake News (F) sind: a) Macau schließt Casinos aus Angst vor Coronavirus. Das ist falsch.“

      „Ne, das ist richtig.“

      „Was ist das Coronavirus und was ist Macau?“

      5 Minuten-Pause. Im Klassenzimmer.

      „Herr Lehmann, Handys sind im Schulgebäude verboten.“

      „Aber nicht für Lehrer. Ich will auch nur schauen, ob ich den Brief für die Berlinfahrt vielleicht auf dem Handy habe…“

      „Hallo Julius, ich wünsche Dir alles Gute zum Geburtstag. LG Daniel…

      Plink.

      „Ja, ja, Herr Lehmann, Sie haben doch gerade eine Nachricht verschickt.“

      Plink.

      „Herr Lehmann, Sie haben Post.“

      Gelächter.

      „Die Nachricht konnte nicht zugestellt werden.“

      Komisch. Hat Julius die Handynummer gewechselt? Warum hat er sie mir dann nicht gegeben. In der großen Pause werde ich mal schauen, ob Julius noch im Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen arbeitet. Könnte ich überhaupt mit meiner Klasse hingehen.

       Donnerstag, 10. November 1938

       Mitten in der Nacht wurden wir durch lautes Geschrei geweckt. Dann ein Klirren. Die Scheibe des Bekleidungsgeschäftes meines Cousins wurde eingeschlagen. Wieder Schreie. Die braunen Hemden zogen uns auf die Straße und zwangen uns, Kniebeugen zu machen. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, schlugen sie uns so lange in die Knie, bis wir in die Scherben der zerbrochenen Fensterscheibe fielen. In der Ferne sahen wir die Synagoge brennen. Dann kam die Polizei und nahm uns Männer mit.

      Mittwoch, 26. Februar 2020

       Julius

      „Julius?“

      „Ja?“

      „Hast Du mal einen Moment?“

      „Klar, was gibt es?“

      Was will denn der Leiter der Sprachschule von mir? Und warum will er mit mir in seinem Büro darüber sprechen? Was liegt denn da auf seinem Tisch? Das ist doch die Hörübung, die ich mit meinem Kurs letzte Woche gemacht habe.

      „Du Julius, das habe ich gestern im Kopierraum gefunden.“

      „Ja, und was ist damit?“

      Schweigen.

      „Wie soll ich das sagen? Meinst Du, Julius, es ist so gut, wenn Du jüdische Themen im Integrationskurs behandelst? In einen Integrationskurs mit…“

      „Das Thema, das ich gerade behandle, ist Flucht. Ich habe mit meinem Kurs einen Podcast über die Irrfahrt der St. Louis 1939 gehört…“

      „Ja, das sehe ich ja. Frage 1: Das Schiff durfte in Havanna die Passagiere nicht von Bord lassen. Richtig oder falsch?“

      „Richtig. Ich verstehe Dein Problem nicht.“

      „Ja, Du unterrichtest in Deinem Kurs ja, also Moslems.“

      „Die hatten kein Problem damit. Oder hat sich jemand beschwert?“

      „Nein, aber stell Dir mal vor, jemand beschwert sich. Wir kriegen das Geld für die Kurse ja vom Berliner Senat. Vielleicht kannst Du auf solche Provokationen in Zukunft verzichten?“

      „Ich wollte bestimmt niemanden provozieren. Aber kannst beruhigt sein. Wir schauen in der Einheit nur noch einen Film zur Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten und dann sollen die Kursteilnehmer selber einen Aufsatz schreiben, wie sie nach Deutschland gekommen sind.“

      „Sehr gut und nichts für ungut.“

      „Also dann.“

      Arschloch.

       Freitag, 11. November 1938

       Mein Cousin durfte zurück zu seiner Frau. Ob es daran liegt, dass sie Arierin ist? Meinen Onkel behielten sie. Er hatte einmal falsch geparkt.