Dame in Weiß. Helmut H. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut H. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847668299
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kommen können.«

      Sie nickte abwesend, ihre Geduld war erschöpft, wie ich sah.

      »Aber ich bin sicherlich normal gewesen, mit Ängsten und Ahnungen, nicht dumm, wie du sagst, und so weiter, erst durch diese ...«

      »Da haben wir es, wieder ist dein Komplex am Werke. Kannst du dich nicht endlich beruhigen? Du hast doch erreicht, was, du wolltest. Wir haben uns damals nicht viel wehren können und uns schließlich seufzend gebeugt – ausgenommen vielleicht der alte Stadel; ich glaube, du hast ihn richtig beurteilt -, und zum Schluss hörte man gar nicht mehr hin. Ganz wie heute. So ist es eben.« Sie schwieg. Dann leiser: »Sterne verlöschen, Sterne gehen auf, wir sind eben nichts.«

      Sie hatte mich zum Schweigen gebracht, und ich frage mich, warum es ihr immer gelang, ihren Fatalismus auf mich zu übertragen. Weil sie auf einem Hort an Bewusstsein saß und weil -je länger, desto mehr- ihre Position als die sicherere erschien?

      »Du tust mir leid«, bemerkte sie noch, »vor vierzig Jahren konntest du dich noch auf eine Hoffnung berufen. Es ist alles anders gekommen, nicht wahr? Von der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit ist nicht mehr viel übrig geblieben. Der Überfluss bleibt aus, und er wird sich nicht einstellen, solange du lebst, und besser ist der Mensch auch nicht geworden. Im Grunde hat sich nicht viel verändert. In dieses Zeitalter der getäuschten Erwartungen traten wir schon neunzehnhundertvierzehn ein, das ist die Wahrheit.«

      Sie brach ab, ging zum Fenster und sah hinaus. Ich wusste, was sie dachte, dieser Blick aus dem Fenster, die Straße hinunter und hinauf, belehrte uns über Tatsachen.

      Schweigend stellte sie das Geschirr auf ein Tablett und trug es in die Küche.

       Kapitel 3

      An jenem Tag war mir klar, dass sich etwas unwiderruflich in meinem sechs Jahre alten Leben verändern würde. Alles sprach dafür: die Gewichtigkeit, mit der sich mein Vater anzog, die Krawatte umlegte, die bunte Schultüte, ein nach frischem Leder duftender Schulranzen, eine im Holzrahmen steckende Schiefertafel und ein schmaler rechteckiger Kasten für Griffel. An langer Schnur sah aus dem Ranzen ein Schwamm hervor.

      Erhöht wurde mein Missbehagen durch Wollstrümpfe, die meine empfindliche Haut reizten, ein Paar neue Schuhe, deren Kappen drückten, obwohl Verena sie mit dem Hammer weichgeklopft hatte. Ich weigerte mich vergeblich, eine Mütze aufzusetzen; es ging auch nicht um die Mütze. Ich wehrte mich noch gegen den Zwang, aber ich ahnte schon, dass ich verlieren würde, schon verloren hatte.

      »Die werden dir schon Zucht beibringen«, verhieß mein Vater, um sogleich zu mildern: »Vielleicht gefällt es dir ja auch.«

      Ich war erschöpft, bevor ich der Schule überhaupt begegnet war, und hatte ein Gefühl äußerster Hilflosigkeit. Diesem Zustand entsprang ein Gegenmittel, stachelte mich zu etwas an, das Hass auf meinen Vater, auf alles, was sich anschickte mich in Zucht zunehmen, sehr ähnlich sah.

      »Also gehen wir«, mein Vater stülpte den Hut auf, zog ihn mit beiden Händen zurecht, und Verena, die nicht mitging, sondern uns auf dem Rückweg abpassen wollte, knöpfte mir den Mantel zu. Es muss an meinem Einschulungstag kalt oder zumindest kühl gewesen sein. Zuletzt hängte sie mir den Ranzen um die Schultern; eine kleine Tasche, die Brottasche, baumelte an meiner Hüfte. Meine Mutter gab mir einen Kuss, und mein Vater, der adrette Buchhalter, griff nach der Schultüte, die in meinem Falle Attrappe war, denn ich verabscheute Bonbons und Schokolade.

      »Dein Vater hat gesagt, tu mir den Gefallen und mach ein anderes Gesicht.« Ein Einwand Verenas, den ich etliche Male gehört hatte. Ich hatte Grund, schlecht aufgelegt zu sein, bei dem, was mir geschah; ein riesiges graues Haus, dessen Tor wie eine Falle hinter mir zuschnappte, eine Herde anderer Jungen mit ihren Vätern, Müttern oder mit beiden. So füllte sich der Hof mit bedrückten kleinen Menschen und ernsten großen.

      Grau bestimmte hier alles, die Wände, die Flure mit den langen Hakenreihen zum Aufhängen der Mäntel, die Klassenzimmer, die fest miteinander verschraubten Bankreihen. Es gab keine Teppiche, keine Gardinen wie in meiner gewohnten Umgebung, keine Möbel, mit Ausnahme der Bänke, einem Schrank und dem Lehrerpult, Dinge, die ich nicht als Möbel ansah; und vor allem sog ich den Geruch von Angst, die Ausdünstung von Schmutz, Schweiß und etwas Unbeschreibbarem ein, jenen Geruch, den Kasernen, Schulen, Internate und ähnliche Einrichtungen besitzen, der wie ein Lähmungsgift wirkt. Die anderen zu beachten, hatte ich keine Zeit; mit mir beschäftigt, sah ich nicht, was sie taten, aber unterdrücktes Heulen drang doch in meine Ohren, und meine Nase witterte Angstschweiß, der aus den Poren erregter Kinder aufstieg.

      Das Tor hatte sich hinter uns geschlossen; ein krummer Kerl im Drillichanzug stand grinsend Wache, und ich gewahrte, dass die Großen darangingen, der Sache eine andere, heitere Seite abzugewinnen; sie begannen sich miteinander bekannt zu machen, die Hüte zu ziehen, sich die Hände zu schütteln und Eindrücke auszutauschen; sicherlich kannten sich die einen oder anderen bereits.

      Mein Vater hielt sich etwas abseits, ich musterte ihn. Heute übertrage ich Äußerliches, später Gesehenes auf die frühe Episode: Der im Stehkragen mit umgelegten Ecken kann nur in eine frühere Zeit gehören. Christoph ist damals ein nicht sehr großer, weder zur Korpulenz neigender noch hagerer Mann gewesen; in den eleganten Sachen bewegte er sich ohne übertriebenes Gehabe, die Sachen passten zu ihm, er schien für sie gemacht. Seine Hände öffneten eine Schachtel Overstolz, um eine Zigarette herauszunehmen. Dann besann er sich wohl darauf, wo er war, und ich sah, wie ein paar ältere Herren den Schulhof betraten. Einer von ihnen redete die versammelten Eltern laut an. Ich verstand nicht, was er sagte, aber nach dieser Rede zog mich mein Vater in eine Ecke des Schulhofs zu einer Gruppe anderer Jungen. Nach und nach selektierten die Lehrer ihre Zöglinge aus der Masse Kinder, und allmählich löste sich die Menge auf, mit dem Ergebnis, dass drei erste Klassen gebildet worden waren.

      Unser Lehrer führte uns ins Klassenzimmer, blind folgte ich der Herde, jetzt getrennt von meinem Vater, der mit den übrigen Eltern ein Stück zurückblieb. Und hier auf dem Wege ins Klassenzimmer entdeckte ich die furchtbaren Wahrheiten, die auf mich warteten. Der Geruch dieses Hauses trog nicht. Ich war schon untergegangen in der Masse Abzurichtender, und ich hasste meinen Vater, weil er mir nicht half. Ich belegte irgendeine Bank, ohne auf meinen Nachbarn zu achten, schob, wie uns der Lehrer geheißen, die Mappe unter die Bank, die Brottasche daneben, brachte meinen Mantel auf den Flur und hängte die verhasste Mütze an einen Haken, ahnend, dass die lächelnde, geduldige Nachsicht mit unserer konfusen Unerfahrenheit der anwesenden, uns schützenden Eltern wegen vorgetäuscht war. Alle diese geforderten Verhaltensweisen würden zu festen Regeln werden, zu einem System von Lob und Tadel, Anerkennung und Strafe. Außerdem konnten die unbeaufsichtigten Sachen wegkommen oder gestohlen werden.

      Wir saßen; man bedeutete uns, wir sollten die Hände auf dem Pult falten, wie beim Gebet in der Kirche, und nicht mit den Füßen scharren; auch hätten wir den Mund zu halten. Längs der Wände standen die Eltern, ihren nach Fassung ringenden Sprösslingen zunickend oder ihnen drohend. Auch mein Vater stand dort, aber er hielt sich weit ab von mir, absichtlich, wie ich glaubte.

      Nun verlas unser Lehrer die Namen der Kinder. Jedes erhob sich aus der Bank und sagte hier, worauf der Lehrer den Jungen musterte und ihn sich wieder setzen ließ. Mein Name kam, ich nahm ihn wohl auf, reagierte jedoch nicht, obwohl ich den Vorgang durchaus begriffen hatte. Der Lehrer musste meinen Namen mehrmals wiederholen. Die Eltern reckten ihre Hälse, und die Kinder sahen sich nach mir um. Schließlich stand ich auf und sagte mein hier, wie es verlangt wurde. Aufbrandendes Gelächter zog Kindern, Eltern und Lehrern meinen Zorn zu, aber ich heulte nicht. Mir war klar geworden, dass Tränen hier nichts nutzten, sondern nur als Zeichen der Unterwerfung gedeutet wurden. Den Heulern legte der Lehrer die Hand auf den Kopf oder zog sie an sich, wie ich beobachtet hatte. Mir waren Menschen immer verdächtig, die mir ihre körperliche Nähe aufdrängen wollten; ich ging ihnen aus dem Wege, und wie richtig meine Ahnungen waren, erwies sich an Lehrer Zissel sehr bald. Nach dem Aufrufen hoffte ich für heute entlassen zu werden, aber uns wurde erst ein Märchen vorgelesen, eines jener Märchen, die ich durch Mutter oder Tanten längst kannte. Nicht dass ich heute noch sagen könnte, welches Märchen Herr Zissel vorlas; aber der Ton, die Stimmung sind mir deutlich.