Großmamas leuchtende Augen sahen über die Brille hinweg angelegentlich hinüber. Was hatte das Kind nur? Warum wurde es so verlegen? Frau Annemarie machte sich den zweiten Knoten in ihr Gedächtnis.
Der Großpapa aber, dem nichts aufgefallen, drängte, nun endlich den Nachmittagsspaziergang zu machen. Sonst würde es stichdunkel. Dabei war er soeben erst mit seiner Zigarre fertig geworden, dem regelmäßigen Signal zum Aufbruch. »Die Nachmittagssprechstunde war wieder mal nit zu bewältigen«, stellte er, sich selbst ironisierend, fest und griff nach dem breitkrempigen, weichen Filzhut. Den »Doktorhut« nannte ihn seine Frau. Einen Überzieher bei diesem warmen Spätsommerwetter? Ausgeschlossen. Bis es kalt wurde, sah man den alten Geheimrat Hartenstein in seinem schwarzen Gehrock laufen. Da nützten alle Bitten und Vorstellungen seiner Frau nichts.
Die Großmama hatte sich in Mariettas Arm eingehängt. Allzuoft hatte sie jetzt nicht die Freude, mit der Enkeltochter wochentags spazieren gehen zu können. Marietta hatte ihre Arbeit im Kinderhort höchst ernst und gewissenhaft genommen. War diese doch Vorbedingung für ihre Aufnahme in der sozialen Frauenschule. Nur selten hatte sie einen Nachmittag frei.
Aus den Nachbarvillen folgten den dreien wohlwollende Blicke. Aha – Geheimrats machten ihren Spaziergang. Dann war's grade ein viertel sechs. Man konnte die Uhr danach stellen. Der alte Herr, welcher als Vorreiter stets fünf Schritte voraus zu sein pflegte, war von einer pedantischen Pünktlichkeit. Die alten Leutchen, die als junges Paar einst ihr Nest hier draußen gebaut hatten, gehörten zu dem Straßenbild, wie die Linden und Blutbuchen, welche den Fußsteig besäumten, wie der Kirchturm, den man am Ende der Straße sah. Ein jedes Kind kannte sie. Fast jedem der Käufer war der beliebte Arzt ein treuer Helfer gewesen. Und seine anmutige Frau hatte sich, ob man sie nun persönlich kannte oder nur vom Sehen, von Anfang an die Herzen der Nachbarn erobert. Man hatte die Kinder heranwachsen und davonfliegen sehen, man hatte die Enkelschar in Geheimrats Rosengarten toben gehört. Die Ankunft der exotischen Enkelinnen hatte viel Staub aufgewirbelt. An allem, was Hartensteins betraf, nahm die Straße regen Anteil. Hier zog man nicht alle paar Jahre ein und aus, hier war man seßhaft. Fast jeder bewohnte sein eigen Haus. Hier draußen lebte man, wie in einer kleinen Stadt für sich.
Es war ein anmutiges Bild, die alte Dame mit dem im Laufe der Zeit schneeweiß gewordenen Haar am Arm der jungen Enkelin, die wie eine zarte, fremdländische Blüte ausschaute. Ein wenig behäbig, ein wenig schwerfällig war die Großmama schon, aber das Antlitz noch immer rosig, kaum von einer Falte durchfurcht. Mehr noch aber fesselte die liebe, gütige Art, die aus Blick und Wort der alten Dame sprach.
Sie hielt es jetzt an der Zeit, mal ein wenig bei der Enkelin auf den Busch zu klopfen.
»Man darf es der Gerda nicht übelnehmen, wenn sie manchmal ein wenig selbstherrlich und geistig überhebend erscheint. Sie meint es nicht so, daran ist nur die Schulmeisterei, die sie vom Vater geerbt hat, schuld.«
»Mir gegenüber ist Gerda niemals überhebend. Wir verstehen uns sehr gut.« Mariettas Antwort befriedigte die Großmama nicht recht. Also damit war's nichts.
Der Großpapa, wieder fünf Schritte voraus, blieb an einer der Querstraßen wie immer stehen. »Links oder rechts?« fragte er, wartete die Antwort aber gar nicht ab, sondern bog gleich links ab, wo der baumbestandene Weg über die Bahnüberführung hinaus ins Freie führte. Das heißt, bis man ins Freie kam, dauerte es noch eine ganze Weile. Nicht nur Geheimrats Kinder und Enkel waren herangewachsen, auch Berlin hatte seine Steinglieder gestreckt. Hohe Mietskasernen hatten das Gartenland und die grünen Wiesen hier draußen in Lichterfelde verschlungen. Aber schließlich hörten sie doch auf, die sonne- und luftversperrenden Steinkästen, und man war draußen. Es gehörte der bescheidene Natursinn des märkischen Bewohners dazu, um sich an diesem »draußen« zu freuen. Da war zuerst ein Abladeplatz für Schutt und leere Konservenbüchsen. Darauf folgte Baugelände, von Zäunen umschlossen. Nun kamen die kleinen Laubengärten mit ihrem letzten Herbstschmuck. Und dann hörte der staubige Weg auf; man hatte richtiges, wenn auch schon etwas bräunliches Wiesengelände unter den Füßen, auf dem die Jungen ihre buntschweifigen Drachen steigen ließen. Silberne Dämmerung umschleierte dieses freie Land bis zu dem schwarzblauen Kieferngürtel des Grunewalds am Horizont. Der Wind trug auf seinen Flügeln den herben Duft von welkenden Blättern. Der alte Geheimrat liebte dieses Stückchen märkischer Poesie; es war sein Lieblingsspaziergang. Er blieb stehen und wartete auf seine Damen. »Schön hier draußen, gelt? Aber ihr kriecht ja im Schneckentempo. Dazu hast die Stütze deines Alters am Arm, Fraule?«
»Die Stütze deines Alters« – es gab Marietta einen Stich durchs Herz. Ihr war in der frischen Herbstluft so leicht und frei zumute geworden; alles Beschwerende war von ihr abgefallen. Aber jetzt war es plötzlich wieder da.
»Du darfst auch an der Stütze unseres Alters teilhaben, Rudi«, ging Frau Annemarie auf den Scherz ein. »Wenn du nur nicht immer als Schnelläufer vorangaloppieren möchtest.«
»Komm, Großpapa, ich habe noch einen Arm frei«, meldete sich nun auch Marietta.
»Nein, nein, ich stütze mich lieber auf meinen Stock. Auf euch junges Volk ist kein Verlaß. Eines schönen Tages geht ihr auf und davon, und wir Alten haben das Nachsehen«, neckte der Großpapa.
»Unsere Jetta geht nicht auf und davon, die bleibt bei uns«, sagte die Großmama zuversichtlich und drückte liebevoll den Arm der Enkelin.
»Und wenn sie uns irgendeiner fortkapert, wie dann, Fraule? Alles schon mal dagewesen.«
»Ja dann – wenn's der richtige ist – dann hätte ich ganz gewiß nichts dagegen einzuwenden«, bekräftigte die Großmama.
»Mich kapert keiner fort – höchstens meine Arbeit.« Wie dumm – Marietta biß sich auf die Lippen, durch die sich gegen ihren Willen ein schwerer Seufzer Bahn gebrochen.
Großmamas Ohr war zwar nicht mehr so fein wie früher, aber sie verstand dafür mit dem Herzen zu hören. Sie blieb atemschöpfend stehen und ließ ihrem Mann wieder ›seine fünf Schritt‹ Vortrab.
»Jetta, Seelchen, was ist es mit deiner Arbeit? Irgend etwas ist da nicht in Ordnung. Du bist verstimmt und bedrückt. Willst du dich nicht wie sonst aussprechen? Zu zweien trägt man jede Last leichter.«
»Ich darf dich nicht damit beschweren, Großmuttchen.« Marietta war zu ehrlich, um Ausflüchte zu machen.
»Hat mein Kind kein Vertrauen mehr zu seiner alten Großmutter?« Es klang traurig.
Dagegen war die weichherzige Marietta nicht gewappnet. Noch einen Augenblick schwankte sie, dann brach es sich Bahn. »Ich wollte dich damit verschonen, Großmuttchen, aber wenn du es denn wissen willst – ich muß mich entscheiden, ob ich in die Tropen zurückgehe oder hier bleibe.« Mariettas Stimme klang vor Erregung belegt.
Lachen – innerlich befreites Lachen antwortete. Was – die Großmama konnte darüber lachen – sie nahm es nicht ernst? Nun, um so besser.
»Seelchen, weiter ist es nichts – – – nun, darüber brauchen wir uns doch heute noch nicht den Kopf zu zerbrechen. Kommt Zeit, kommt Rat.«
»Heute nicht – aber doch in nächster Zeit. Es handelt sich um die praktische soziale Tätigkeit. Wir müssen uns für ein Spezialgebiet entschließen. Wenn ich mich für die Arbeiterfürsorge entscheide, tue ich es nur, um in Brasilien den Plantagenarbeitern gesündere und menschenwürdigere Lebensbedingungen zu erringen. Aber dann müßte ich euch verlassen, euch und Deutschland – ich fürchte mich davor, wieder in den Tropen zu leben. Ich stehe am Scheidewege und weiß nicht, wo meine Pflicht liegt, bei euch oder drüben.« So, nun war's heraus.
Frau Annemarie lachte nicht mehr. Kein selbstsüchtiger Gedanke kam ihr. Sie sah nur, daß Marietta in einem seelischen Zwiespalt war, daß ihr Liebling darunter litt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder sprach.
»Wo deine Pflicht liegt, Kind? Uns, dem Großpapa und mir gegenüber hast du keine Pflicht, höchstens Herzenspflichten. Wir beide sind alt, wir werden nicht ewig leben. Du darfst