Marietta strich beruhigend über die erhitzten Kindergesichter. »So, nun setzt euch mal erst brav auf eure Plätze und dann erzählt mir, warum ihr eben so unartig wart.«
»Die olle Käthe brüllt immer jleich« – »nee, der Paul hat« – – – »und der Gustel hat mir meinen schönen Turm janz« – – »und Karle hat mir so doll jeschubbst – – –« so ging das wieder durcheinander.
»Aber Friedel, so heißt es doch nicht, wie heißt es?« Marietta war der deutschen Sprache jetzt so mächtig, daß ihrem Ohr das falsche Sprechen mancher Kinder weh tat.
»Der Karle hat mir so doll jestoßen«, verbesserte sich der kleine Blondkopf.
»Lenchen, sag' du unserem Friedelchen, wie es richtig heißt.«
»Karl hat mich so doll gestoßen.« Trotz des gelben Zigarrenbändchens im Zopf sprach Lenchen ein gutes Deutsch. Sie war von besserem Herkommen. Der Vater war Buchhalter gewesen, früh gestorben und die Mutter in kümmerlichen Verhältnissen zurückgeblieben.
»Mit den Gören ist heute kein Auskommen, Fräulein Jetta, sie müßten alle eine Stunde in die Ecke gestellt werden«, beklagte sich Tante Martha empört.
Marietta warf einen verständnisvollen Blick auf die bunte Häkelei der jungen Dame. Ehe sie noch antworten konnte, rief aber einer von den großen Jungen: »Pfui, Tante Martha, weißte, was du bist? 'ne olle Pfennigklatsche!«
»Tante Martha ist eine Pfennigklatsche – Tante Martha is 'ne olle Petze!« Aufs neue schien das Gejohle losgehen zu wollen.
Stillschweigend, ohne ein Wort zu sagen, griff Marietta nach ihrem Lederhütchen.
»Nich gehen! – Tante Jetta soll mit uns spielen!« Selbst die ärgsten Schreihälse wurden sofort zahm und verlegten sich aufs Betteln.
»Ihr seid mir heute zu unartig, Kinder«, sagte diese traurig.
»Wir wollen ganz artig sein! Liebe, liebe Tante Jetta, bleibe doch bei uns!« Das war Lenchen.
Mariettas weiches Herz vermochte all den zärtlich bittenden Stimmen nicht standzuhalten. Sie hängte den Hut wieder an den Nagel, verlangte aber als gute Pädagogin: »Fritz, entschuldige dich erst bei Tante Martha wegen des häßlichen Wortes.« Dies geschah zur geheimen Belustigung der beiden jungen Damen, indem Fritz Tante Martha treuherzig die tintenbeschmierte Hand reichte und dabei die ehrenvolle Erklärung abgab: »Tante Martha, du bist keine Pfennigklatsche nich!«
Nun saßen sie alle, die Kleinen, mit gefalteten Händchen so brav auf ihren Plätzen, als ob sie niemals wie eine wilde Horde getobt hätten, und blickten erwartungsvoll auf Marietta.
»Kleben wir wieder bunte Ketten für den Weihnachtsbaum, Tante Jetta?«
»Au ja – und Goldkörbchen flechten wir wieder und Silber-Netze – – –«
Aber Tante Marietta schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Kinder, heute habt ihr es nicht verdient, daß wir Weihnachtsarbeiten machen. Das ist eine Belohnung für artige Kinder. Ketten und Körbe von unartigen Kindern hängt der Weihnachtsmann gar nicht an den Tannenbaum an. Wir werden heute an unserer Puppenwohnung weiter arbeiten.«
»Och, die olle Puppenwohnung«, wollte Ingeborg wieder Einwendungen machen, aber ein ernster Blick von Tante Jetta ließ sie sofort verstummen. »So, Kinder, nun räumt erst euer Spielzeug ein und legt es wieder ordentlich in den Schrank, ehe wir was Neues vornehmen. Ihr Großen arbeitet fleißig, damit ihr nachher auch mitspielen könnt. Nun, Kläre, wieviel Fehler waren im Diktat? Oh, so viele? Da werde ich dir nachher ein paar Sätze diktieren, so schlechte Arbeiten dürfen meine Kinder nicht schreiben. Wie geht's dem Vater, Lorchen? Haben ihn die Früchte erquickt, ja? Nun schreibe mal besonders schön, damit der kranke Vater sich freuen kann und schnell gesund wird.« So schritt Marietta von einem ihrer kleinen Schützlinge zum andern, jeden mit einem freundlichen Wort ermunternd.
Woran lag es bloß, daß die Kinder bei Fräulein Marietta stets brav und lieb waren und sie selbst immer Ärger mit ihnen hatte? fragte sich Fräulein Martha. Kinder waren sicher auch ungerecht, genau wie Große. Sie mochten sie wohl nicht so gut leiden. Daß sie selbst dazu die Veranlassung gab, indem sie ihre Pflichten nicht ernst genug nahm und sich nicht voll dabei einsetzte, das sagte sich das junge Mädchen nicht.
Wirklich, es war merkwürdig, wie die Kinder jetzt alle voll Eifer dabei waren, an der Puppenwohnung zu helfen. Je nach Alter und Geschicklichkeit wurden sie dabei beschäftigt. Die Puppenwohnung selbst, aus Pappe, durch Pappwände in Zimmer und Küche, ja sogar in zwei Stockwerke abgeteilt, stand bereits im Rohbau. Jetzt galt es Tapeten zu malen. Lenchen und Ingeborg bekamen das Wohnzimmer zugewiesen. Auf die Rückseite von mattem Goldpapier durften sie leichte Ornamente, die Tante Jetta ihnen vorzeichnete, malen, ausschneiden und auf dunkelgrünes Glanzpapier kleben. Das gab eine herrliche Tapete. Zwei kleinere, Gustel und Käthchen, hatten die Schlafzimmertapete zu liefern. Diese war einfacher. Weiße Streifen wurden in regelmäßigen Abständen auf himmelblaues Papier geklebt. Die drei kleinsten flochten bunte Papierteppiche für die Zimmer. Paulchen malte das Pappdach mit ziegelroten Steinen an und Karlchen tuschte braune Türen. Die Großen arbeiteten voll Eifer, ihre Schularbeiten zu vollenden, um ebenfalls helfen zu können. Die Jungen machten aus Zigarrenkisten mit dem Laubsägekasten allerlei nettes Mobiliar, Tisch, Stühle, Bettstellen. Während die größeren Mädel auf Kongressstoff Gardinen, Tischdecke und Bettdecken stickten. Voll emsiger Geschäftigkeit waren sie alle dabei, die Kleinen, mit feuerroten Bäckchen arbeiteten sie. Nichts durfte zu dem Puppenhaus gekauft werden, alles wurde selbst fabriziert. Ein Lob von Tante Jetta, ein anerkennendes Streicheln der blonden und dunklen Köpfchen war der schönste Lohn.
»So, Fräulein Martha, jetzt ist ja alles hier eifrig bei der Arbeit, nun werde ich mich mal erst zu meinen Krippenkindern begeben«, wandte sich Marietta an die junge Helferin. »Ich komme bald wieder zu euch, Kinder, wer inzwischen am schönsten gearbeitet hat, bekommt eine Belohnung.« Damit verließ Marietta den Raum.
Die Laufkrippe in dem Zimmer gegenüber gehörte ebenfalls zu ihrem Reiche. Hier waren die Ein- und Zweijährigen, die zum Teil schon auf eigenen Füßchen einhertrappelten, aber der eigentlichen Säuglingskrippe bereits entwachsen waren. Als Schülerin der sozialen Frauenschule hatte sich Marietta in allen Abteilungen des Hortes auszubilden. Aber da sie älter war als die jungen Hortlerinnen, und da dieselben alsbald merkten, daß sie die Sache besser beherrschte als sie selbst, räumten sie ihr eine leitende Stellung ein. Marietta in ihrer Bescheidenheit machte niemals einen falschen Gebrauch davon. Sie übernahm nicht die Rechte, sondern nur die Pflichten und die Verantwortung einer Leiterin.
Auch in dem großen, saalartigen Zimmer, der Laufkrippe, wurde Mariettas Erscheinen jubelnd begrüßt. »Tatta Setta – Tatta Setta!« – aus dem großen Laufgitter, das die Mitte des Raumes einnahm, tappelte es auf unsicheren Beinchen, kroch es auf allen vieren, angelte es mit den Ärmchen jauchzend der Eintretenden entgegen. Die ergriff eins der zappelnden kleinen Dinger und schwenkte es zur allgemeinen Erheiterung in der Luft umher. Dann gaben alle Kleinen Patschhändchen und sagten guten Tag, wobei manche schon einen richtigen Knicks machten, ganz gleich, ob Junge oder Mädel. Die meisten der kleinen Gesellschaft trieben die Höflichkeit so weit, daß sie sich gleich dabei wieder auf die Erde setzten.
Ein etwas größerer Junge saß abseits von den anderen in einer Ecke. Er hatte sich nicht an den allgemeinen Empfangsfeierlichkeiten beteiligt. Er hatte einen auffallend großen Kopf und sah ziemlich verständnislos drein. Aber als Marietta jetzt zu ihm trat, ihm über die Haare fuhr und liebevoll fragte: »Ottchen, wer bin ich?« Da ging es über das teilnahmslose