Aber Marietta hatte es nicht gar so eilig mit dem Berichten. Nachdenklich schaute sie auf jeden Kirschstein, den sie an den Rand des Tellers in gleichmäßigen Abständen legte. Wie rührend die Großmama um ihr Wohl besorgt war. Durfte sie da noch schwanken?
Marietta wußte nicht, daß sie eine ganze Zeit lang den Kompottlöffel an die Lippen gehalten hatte, ohne die daraufliegende leckere Kirsche in den Mund spazieren zu lassen. Ihre Gedanken waren weit fort. Die pendelten zwischen den Arbeiter-Lehmhütten auf den brasilianischen Kaffeeplantagen und dem großelterlichen Rosenhaus hin und her. Wo brauchte man sie notwendiger?
In die Augen der alten Dame, die mit großmütterlicher Freude an der liebreizenden Enkelin hingen, trat von Sekunde zu Sekunde wachsende Unruhe. Da war etwas nicht im Lot. Dazu bedurfte es nicht erst ihres erfahrenen Blickes, um das zu erkennen. So lebhaft wie Mariettas Mutter, Frau Annemaries Ursel, einst gewesen, war deren Tochter ja nie. Anita, die Zwillingsschwester, glich darin mehr der Mutter. Marietta war von einer gleichmäßigeren, stilleren Heiterkeit. Um so mehr befremdete die Großmama ihr einsilbiges, sichtlich bedrücktes Wesen. Hatte sie in dem neuen, selbsterwählten Berufskreise Verdruss oder Enttäuschungen gehabt?
Eigentlich war Frau Annemarie überhaupt nicht so sehr für die soziale Frauenschule gewesen. Marietta war zart, die Tätigkeit, welche die soziale Ausbildung dort erforderte, war eine recht anstrengende. Sie hatte ja durchaus nichts dagegen, daß das Kind seine Zeit und Arbeit gemeinnützigen Zwecken weihte. Aber das konnte sie doch wie bisher, unter Anleitung ihrer Tochter Vronli, die in so vielen Wohlfahrtseinrichtungen ehrenamtlich tätig war, weiter fortsetzen. Wozu bedurfte es dazu erst noch jahrelanger Studien? Gerda hatte der Kusine den Floh ins Ohr gesetzt. Weil Gerda die soziale Frauenschule besuchte, mußte auch Marietta das gleiche tun. Dabei lag doch die Sache für beide ganz verschieden. Ihre Enkelin Gerda mußte darauf sehen, sich als Lehrerstochter möglichst bald auf eigene Füße zu stellen, sich vom Vater unabhängig zu machen. Sie mußte daran denken, eine Anstellung als soziale Beamtin zu erhalten. Bei Marietta war das doch nicht nötig. Die Tochter des reichen Kaffeekönigs in Brasilien konnte sich den Luxus einer unbezahlten Tätigkeit, die ihren Neigungen entsprach, gestatten. Man konnte genug Gutes tun, wenn das Herz und der Geldbeutel nur groß genug dazu waren. Dazu brauchte man nicht erst die soziale Frauenschule zu besuchen. Aber daß das Kind so wieder heim kam, so still und bedrückt, das hatte sie nicht erwartet. Das schlug dem Faß den Boden aus.
»Also so wenig begeistert bist du von deiner neuen Tätigkeit, Jetta?« Wie stets ging Frau Annemarie grade auf ihr Ziel los. »Macht nichts, Seelchen. Besser, du siehst gleich im Anfang ein, daß es nichts für dich ist, als daß du dir die besten Jahre deines Lebens damit verdirbst. Mir ist es ganz recht, daß es so gekommen ist.«
»Wie denn?« Ganz erstaunt ließ Marietta die Kirsche vom Löffel wieder auf den Teller zurückgleiten.
»Na, ich denke, du bist unbefriedigt von der sozialen Frauenschule. Sie entspricht gewiß nicht deinen Erwartungen. Sind dir die Lehrkräfte oder die Mitschülerinnen nicht sympathisch?«
Jetzt mußte Marietta lachen. Es klang so silberhell wie stets. »Weder das eine noch das andere, Großmuttchen. Was du für eine rege Phantasie hast. Es hat mir sehr gut in der sozialen Frauenschule gefallen. Die Vorsteherin, Fräulein Dr. Engelhart, scheint eine herrliche Frau zu sein. Wir sind alle ganz begeistert von ihrer Auffassung der sozialen Aufgabe.«
»Hm« –, die Großmama zog die Brille hervor, die sie sonst eigentlich nur beim Lesen gebrauchte. »Hm« – – –, aufmerksam betrachtete sie dadurch ihr junges Gegenüber.
Marietta wurde es ungemütlich unter dem prüfenden Blick der alten Dame. Die Großmama hatte so klare Augen, sie schienen auf den Grund der Seele zu lesen. Marietta setzte ihre Teller zusammen und trug sie in die Küche. »Damit Frau Trudchen nicht noch hinterherräumen muß.«
Frau Annemarie lächelte verständnisvoll. Sie lächelte über die hauswirtschaftliche Tüchtigkeit der einst als Tropenprinzesschen in ihr Haus gekommenen Enkelin und über den wahren Grund ihres Ordnungssinnes. Nun, wenn das Kind nicht Rede stehen wollte, sie würde es nicht dazu zwingen. Über kurz oder lang kam Marietta wohl von selbst zu ihr. Sie hatte noch stets mit allem, was sie bewegte, den Weg zu ihr gefunden.
Frau Annemarie begab sich in ihr Biedermeierzimmer, ihr ureigenstes Reich. Dort war jeder Gegenstand, jedes Möbel fest mit ihr verwachsen, durch Überlieferung und Erinnerung ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden. An dem breiten Erkerfenster standen in weißen Porzellantöpfchen Alpenveilchen in allen Farbenstufen; vom zartesten Rosa bis zum tiefsten Purpurrot. Großmamas Blumenfenster war vorbildlich. Keiner hatte solche segensreiche Hand wie sie für die Blumenpflege. Wenn der Garten draußen seine Blütenkinder Herbststürmen preisgeben mußte, dann begann es drinnen an Großmamas Erkerfenster zu treiben und zu blühen. Ihren »Wintergarten« pflegte sie ihren Erkerplatz scherzhaft zu nennen. Im Bauer über dem runden Mahagoni-Nähtisch schmetterte Mätzchen ihr seine Jubelhymne entgegen. Und ein letzter Sonnenstrahl verweilte noch einige Sekunden, um Großmamas Lieblingsplätzchen zu vergolden.
Sie ließ sich in den mit grünem Rips überzogenen Lehnstuhl nieder. Mätzchen hielt in seinen musikalischen Übungen inne und äugte erstaunt auf seine Herrin herab. Nanu? Keine Arbeit in den stets fleißigen Fingern? Still lagen die Hände ihr im Schoß. Nachdenklich suchten ihre Augen das Weite.
Großmama dachte nach. Sie überlegte, kombinierte, schüttelte den Kopf und nickte dann einige Male vor sich hin. Natürlich, so war's. Die Lösung war ganz einfach. Daß sie auch nicht gleich darauf gekommen. Sicherlich hatte es irgendeine Kabbelei mit Gerda gesetzt. Gerda war manchmal ein wenig rechthaberisch und wollte alles besser wissen. Marietta, aus weicherem Holz, war etwas empfindsam. Viel zu weich war das Mädel für das Leben, das einen doch oft recht derbe anpackte. Sie hatte sich gewiß die Unstimmigkeit mehr zu Herzen genommen, als die Angelegenheit wert war. Frau Annemarie war ordentlich froh, daß sie jetzt das Rätsel gelöst hatte. Da griffen ihre Hände auch schon nach dem Ausbesserkorb. Langes Feiern war nicht ihre Sache.
Sie hielt die schadhafte Damastserviette gegen das Licht. Eine Jagd war als kunstvolles Muster in das seidigglänzende Gewebe hineingewebt. Diese Jagd mit Hirschen, Hunden und Jägern hatte schon ihre Begeisterung erregt, als sie noch Doktor Brauns kleines Nesthäkchen gewesen und mit ehrfürchtigen Augen vor dem mullverhangenen Wäscheschrank der eigenen Großmutter gestanden hatte. »Dieses Jagdgedeck sollst du mal bekommen, Annemarie, wenn du groß bist und dich verheiratest. Ich habe für jede Enkelin ein Damastgedeck bestimmt.« Als wäre es heute, so genau erinnerte sich Frau Annemarie jener Szene aus ihrer Kinderzeit. Merkwürdig – sie lebte jetzt überhaupt viel mehr in der Vergangenheit als früher. Längst vergessene Bilder, die jahrzehntelang entschwunden, tauchten manchmal wieder auf. Das ging wohl jedem so mit zunehmendem Alter. Die Gegenwart erforderte nicht mehr volles Sicheinsetzen, die Zukunft hatte nicht mehr viel zu bringen. Was blieb da noch? Die Vergangenheit eines langen, an Freud und Leid reichen Lebens. Beinahe zärtlich streichelte die fein geäderte Hand über den alten Damast. Nein, sie sollte noch nicht ausrangiert werden, ihre Jagdserviette. War man nicht selbst auch allenthalben rissig und brüchig geworden? Emsig begann sie den Faden durch die schadhaften Stellen zu ziehen.
Droben im Stübchen grade über dem Biedermeierzimmer der Großmama saßen sich indessen Marietta und Lottchen gegenüber. Hier war jetzt Schulstunde. Lottchen, die seit einem halben Jahr von der Volksschule auf das Mädchenlyzeum umgeschult war, zeigte trotz heller Auffassungsgabe in den fremden Sprachen manche Lücke. Marietta hatte sich vorgenommen, dieselben auszufüllen. Ihr, die schon als Kind fünf verschiedene Sprachen gelernt hatte, machte das weiter keine Mühe. Sie betrachtete Lottchen immer noch als ihren kleinen Findling, für den sie verantwortlich war. Hatte sie nicht damals in Brasilien der sterbenden Mutter der Kleinen versprochen, sich ihres verwaisten Kindes anzunehmen, es nach Deutschland zu befördern, zu den in Schlesien lebenden Verwandten? Die Nachforschungen nach denselben waren erfolglos geblieben. Lottchen hatte in Lichterfelde ebenfalls eine Heimat gefunden. Frau Trudchen und ihr Mann, das Kunzesche Ehepaar, das schon über zwanzig Jahre in Haus und Klinik des Großvaters tätig war, hatten die kleine Waise an Kindes Statt angenommen. Die Großmama mit ihrem warmen Herzen betrachtete auch das fremde Kind wie eins ihrer zahlreichen