Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ole R. Börgdahl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847621058
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nicht mehr zu kümmern.

      Paris, 10. Oktober 1894

      Gestern stand ich wieder vor dem Spiegel. Victor hat mich beobachtet, er kann den Bauch jetzt auch erkennen. Es fühlt sich schon etwas rund an. Ich hoffe nicht, dass es zu schnell wächst und ich mit einem riesigen Bauch über den Ozean fahren muss. Wir ersehnen die Abreise jetzt geradezu.

      Paris, 18. Oktober 1894

      Die Abreise verzögert sich. Das Schiff von Marseille nach Ozeanien geht erst Mitte November. Ich überlege. Ich bin jetzt im vierten Monat. Wenn wir abreisen schon im Fünften. Die Fahrt dauert zwei Monate, also im sechsten und siebten Monat an Bord des Schiffes. Wenn Victor und ich noch mitten auf dem Ozean sind, werde ich so aussehen, wie Jeanette heute aussieht. Dr. Coulaud meint zwar, es würde nichts ausmachen, aber ich weiß nicht, ob ich es selbst will, ob ich die Reise überhaupt so genießen kann, zwei Monate unterwegs. Mit Victor habe ich über meine Bedenken noch nicht gesprochen, ich will nicht, dass er mich für albern hält. Ich werde warten, bis ich weiß, wann wir tatsächlich reisen. Mutter und Vater sind abgereist, sie wollen aber Anfang November wiederkommen und dann bis zu unserer Abfahrt bleiben.

      Paris, 2. November 1894

      Gestern hatte ich Geburtstag. Wir sind es ruhig angegangen, obwohl ich mich hervorragend fühle. Ich freue mich jetzt doch auf die Reise, egal wie groß mein Bauch jetzt ist oder noch wird. Mutter ist schon wieder zurück aus Gayton. Sie hilft mir beim Packen. Es wird etwas umständlich sein, weil unsere großen Koffer schon nächste Woche nach Marseille gehen und auf dem Schiff verstaut werden. Wir behalten nur das Nötigste für die letzten Tage in Paris und für die Zeit an Bord. Victor hat auch sein Chassepotgewehr eingepackt, er will es unbedingt mitnehmen. Erst jetzt habe ich gesehen, dass er auch ein Bajonett dazu besitzt, ein Ding, das aus einer ekelhaft langen Klinge besteht. In der Rue Marcadet werden die Möbel mit weißen Lacken abgedeckt. Jeanette will nach der Geburt ihres Kindes, und sobald sie es sich wieder zutraut, ein- oder zweimal die Woche nach dem Rechten sehen. Der Architekt meint, dass ein Leerstand von ein paar Jahren durchaus normal ist, solange im Winter geheizt und regelmäßig reinegemacht wird. Jeanette wird sich um all dies kümmern. Außerdem hat Mutter schon versprochen, zu unserer Rückkehr alles wieder gemütlich herzurichten. Ich stelle es mir vor und freue mich schon jetzt darauf, genauso wie auf das neue Land, das ich kennenlernen werde. Ich habe mir auch einige Ausgaben vom Journal des Voyages besorgt, in denen die französischen Besitzungen in Ozeanien vorgestellt werden. Ich habe schon viel gelernt. Im Journal fanden sich Bilder von Papeete. Es gab auch Fotografien von den Menschen dort. Die Frauen haben liebe Gesichter, die Männer wirken scheu.

      Paris, 8. November 1894

      Es gibt eine Sache, die mich etwas betrübt, obwohl Victor und ich in keinster Weise betroffen sind. Im Figaro und sicherlich auch in anderen Zeitungen im ganzen Land wird jetzt der Fall des Capitaines Dreyfus bekannt. Ein französischer Offizier wird des Hochverrats beschuldigt und seine Schuld ist anscheinend schon erwiesen. Nie hätte ich gedacht, einen Verbrecher einmal persönlich zu kennen und jetzt ist es Tatsache. Ich wurde Madame Lucie Dreyfus im Mai auf dem Militärball vorgestellt, ich habe mich mit ihr unterhalten und später kam auch ihr Mann, eben jener Capitaine Alfred Dreyfus, dazu und ich habe ein paar Worte mit ihm gewechselt. Bis vor wenigen Tagen war es etwas ganz Normales, etwas, das ich schon fast vergessen hatte. Wie viele kurze Gespräche habe ich auf dem Ball geführt, mit den Damen und auch mit einigen der Offiziere. Jetzt rückt diese Begegnung für mich in ein anderes Licht. Capitaine Alfred Dreyfus ist von der Republik Frankreich angeklagt und nach dem, was sich Paris erzählt, ist er wohl auch schuldig. Victor äußert sich nicht dazu, er hat mir nicht einmal richtig geantwortet, als ich ihn fragte, wie gut er diesen Mann kenne. Er kennt ihn als Offizier, weniger als Kamerad und schon gar nicht persönlich, nicht sehr persönlich, wie Victor sich ausdrückte. Die Anarchisten sind unter sich und die Gesellschaft erwartet nichts anderes von ihnen, als dass sie Anarchisten sind, aber der französische Offizier muss bedingungslos zu Frankreich stehen. Das sind die Werte, die ich auch von Victor gelernt habe, die ich selbst durchlitten habe und auf die ich als Offiziersfrau genauso stolz bin wie Victor. Insgeheim hoffe ich, dass sich die Angelegenheit um Capitaine Dreyfus zu seinen Gunsten klärt, aber es sieht nicht gut aus. Lucie Dreyfus tut mir so leid, sie war damals im Mai so zuvorkommend und herzlich. Der Zufall wollte es, dass wir uns seither nicht mehr begegnet sind, jetzt scheint es Fügung zu sein, denn was würde es heute für Victor bedeuten, wenn ich eine Freundschaft zu der Frau eines Landesverräters hätte.

      Paris, 11. November 1894

      Gestern Morgen hatte ich schreckliches Herzrasen. Dr. Coulaud ist sofort gekommen, es ist mein Blutdruck, er ist zu hoch, viel zu hoch. Der Doktor meinte, dass es sich nach ein paar Tagen Ruhe geben würde. Ich bange jetzt darum. Wir müssen doch nach Marseille. Ich liege im Bett und Victor darf nicht wissen, dass ich wach bin und schreibe.

      Paris, 30. November 1894

      Ich bin noch immer in Paris. Das Schiff ist fort. Victor wollte erst bleiben und die Reise noch einmal verschieben, aber ich habe es nicht zugelassen. Ich lag im Bett, als er mir den Abschiedskuss gab. Erst jetzt wird mir bewusst, wie lange ich ihn nicht sehen werde. Wenn ich aufstehe, bekomme ich sofort Herzrasen, auch jetzt noch, wo ich doch ständig nur liege und mich ausruhe und gar nichts mache. Dr. Coulaud hat entschieden, dass ich noch nicht reisen darf, dass ich mich jetzt schonen muss. Er ist fast jeden Tag bei mir, misst meinen Blutdruck, sonst nichts. Ich habe ihn nach Medikamenten gefragt. Es gibt nichts oder er will mir nichts geben. Es kann einen Monat dauern, dann könnte es von alleine vorüber sein und es muss von alleine gehen. Ich weiß nicht. Zum Glück ist Mutter noch immer hier in Paris, sie pflegt mich. Sie hat sich schon erkundigt, das nächste Schiff soll kurz vor Weihnachten gehen. Es ist das Letzte für die kommenden vier Monate. Ich fürchte nur, ich werde tatsächlich bis zum Frühjahr warten müssen, dann wäre auch das Kind schon auf der Welt und die Reise wohl auch einfacher für mich. Doch was mache ich in dieser Zeit ohne Victor.

      Paris, 2. Dezember 1894

      Ich bin ganz berührt, ich habe einen Brief von Victor erhalten, pünktlich zum ersten Advent. Ich dachte erst, er käme aus Ozeanien, aber weit gefehlt. Victor war natürlich noch nicht bis dorthin gelangt, wie auch, er hat den Brief am 20. November in Port Said aufgegeben. Die Reise bis nach Port Said ist nicht anstrengend, schreibt er, und so weiß ich es auch von Nellie Bly. Es geht Victor gut. Der Landgang, den er unternommen hat, diente nicht nur dem Einwerfen seiner Nachricht, sondern auch der Erholung. Es ist der letzte Halt, bevor er einen neuen Kontinent erreicht. Ich rechne mir die Reisedauer aus, natürlich nur ganz grob. Es waren fünf Tage bis nach Port Said. Ich habe die Strecke vermessen. Heute, siebzehn Tage nach Victors Abreise muss er sich auf dem Indischen Ozean befinden. Ich werde künftig weiterrechnen, so weiß ich immer ungefähr, wo er sich befindet. Er kündigt noch an, mir wieder von Perth aus zu schreiben. Perth liegt schon in Australien, es ist so schrecklich weit.

      Paris, 12. Dezember 1894

      Jeanette hat vorgestern einen Sohn zur Welt gebracht. Ihre Mutter hat mich heute besucht und mir alles berichtet. Mutter und Kind sind wohlauf. Es war eine leichte Geburt. Es liegt in der Familie. Jeanettes Mutter habe selbst alle ihre Kinder in wenigen Stunden geboren, ohne große Schmerzen und Anstrengungen. Ich weiß, dass es mir auch ein wenig Mut machen soll. Ich freue mich so sehr für Jeanette. Sie haben den Jungen Hugo genannt. Er heißt damit genau wie sein Vater, Hugo Wadeaux Junior. Ich habe jetzt schon entschieden, dass unser Kind weder Victor noch Yvette heißen wird, es soll seinen eigenen Namen bekommen.

      Paris, 19. Dezember 1894

      Ich werde das Schiff in diesem Jahr nicht mehr nehmen. Dr. Coulaud verbannt mich weiterhin ins Bett. Ich liege und schone mich. Ich sollte eigentlich in ein Krankenhaus, aber so kurz vor Weihnachten, wäre es grausam. Jetzt steht es also fest, ich werde Victor erst nachreisen, wenn das Kind schon auf der Welt ist. Mein Bauch ist eigentlich noch nicht