Die Mitternachtsuniversität. Saskia Burmeister. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Saskia Burmeister
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741862007
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      »Ich will dich nicht fressen. Im Gegenteil, ich danke dir!«, ruckartig schnellte der Fremde vor, schlang die Arme um Spike und drückte ihn an sich. Das kam so unerwartet und heftig, dass der Junge vor Schreck aufschrie und ihm schlagartig schwarz vor Augen wurde.

      Wilde Träume von Trollen, die unter Brücken hausten und von kreischenden Vögeln mit Frauenköpfen plagten Spike, bis er aus ihnen aufschreckte. Im ersten Augenblick glaubte er auch die vorhergehenden Ereignisse seien nur eine Illusion gewesen. Dann aber klärte sich sein verschleierter Blick auf und sofort saß er kerzengerade. Er befand sich nicht in seinem Zimmer oder an einem anderen bekannten Ort. Stattdessen hatte man ihn in einem wildfremden Raum mit schwarz angemalten Wänden auf blutroten Samt gebettet. Dieser spannte sich aber nicht als Bettlaken über eine Matratze, sondern bedeckte das Unterfutter, mit dem ein geräumiger Kasten ausstaffiert war. Für einen Moment stockte Spike der Atem, denn jener Kasten hatte ganz ohne Zweifel die unverkennbare Form eines Sarges. Immerhin lehnte der Deckel dazu an der Wand. Daneben standen auf einem Nachttisch weiße Rosen in einer Vase und viele Kerzen auf altertümlichen Kommoden und einem Biedermeier-Schreibtisch tauchten alles in schummriges, unruhiges Licht.

      Abermals an diesem Tage hatte der Junge das Gefühl, sein Herz wollte vor Angst zerspringen, dann aber rang er sich dazu durch, Ruhe zu bewahren. Die Realität konnte das hier ja wohl kaum darstellen. Viel mehr kam es ihm vor wie das Szenario aus einem seiner geliebten Videospiele.

      »Was hatte doch gleich der breitschultrige Kerl gesagt?«, fragte sich Spike. »Der hat sich als Rollenspieler ausgegeben. Wenn er denn tatsächlich einer war, dann muss der dunkelhäutige Typ mit den scharfen Zähnen auch einer sein ... ja, klar doch. Was auch sonst? Man sehe sich nur diese Detailbesessenheit an!« Spike fasste sich an den Lockenkopf und der Schweiß trat ihm auf die Stirn.

      »Ich meine, was soll der Schwarze denn sonst darstellen, als einen überdrehten Rollenspieler? Vielleicht einen echten Vampir?«, führte Spike sein Selbstgespräch fort und setzte dabei ein dümmliches Grinsen auf, um sich selbst zu beruhigen. »Wohl kaum ... so etwas gibt es schließlich gar nicht.«

      Tief holte er Luft und schielte nach rechts und links. Alle Möbel waren aus dunklem Teakholz oder etwas Ähnlichem. Ein mottenstichiger Teppich hing an der Wand, der einen Ritter im Kampf mit einem Drachen zeigte. Zwar steckte dem Reptil schon die Lanze des Edelmanns in der Brust, dafür biss er diesem aber soeben den Kopf von den Schultern.

      »Tja«, Spike zwang sich weiterhin zu einem Lächeln, »und ich dachte immer, ich sei schräg drauf, weil ich als Kind mal dachte, meine Lieblings-Raumschiffserie sei ein echter Dokumentarfilm, den es durch einen Zeittunnel in unser Jahrhundert verschlagen hatte. Doch das ist noch gar nichts gegen den Kerl hier ... Mann-o-Mann. Das ist schon richtig schaurig.«

      Spikes Blick haftete an einem Totenschädel, der oben auf einer Kommode lag, dicht daneben ein Plakat von einer Aufführung von Shakespeares Hamlet, samt dem berühmten Zitat »Sein, oder nicht sein, das ist hier die Frage«.

      »Das passt ja wie die Faust aufs Auge«, dachte sich der Junge an dieser Stelle, »der Kerl, der hier wohnt, lebt tatsächlich seine Rollenspiel-Fantasie. Ein Sarg als Bett, das ist ja wohl oberkitschig.« Dann aber kamen ihm wieder Bedenken. »Und was, wenn es doch echt ist?« Der kalte Schweiß rann Spike den Rücken herab und neben ihm ertönte ein Rascheln.

      Zwischen Kerzen und einer Blumenvase erschien eine weiße Farbratte mit dunkelbraunem Kopf und einem großen, sattelartigen Fleck auf dem Rücken. Mit geweiteten Augen starrte Spike sie an, während sie Männchen machte und die Schnauze öffnete. Zum Vorschein kamen aber nicht nur die üblichen frontalen Nagezähne. Nein, diese Ratte hatte nebst den Schneidezähnen - an einer Stelle, wo Ratten eigentlich gar keine Zähne aufwiesen - auch noch jeweils im Ober- und Unterkiefer zwei spitze Eckzähne.

      »Na, alles klar? Endlich genug geratzt, Dornröschen?«, kam es keck und eindeutigerweise aus der Schnauze der Farbratte. Spike fuhr zusammen und warf seinen Oberkörper ruckartig ein Stück zur Seite, woraufhin der Sarg zu schwanken begann.

      »Immer sachte!«, mit einem Wahnsinnsprung hüpfte das Nagetier zielgenau dem Jungen an die Brust und krallte sich in dessen grünem Pullunder fest. »Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen ...« Dazu kam die sprechende Ratte aber nicht mehr, da ein mittelschwerer hysterischer Anfall Spike packte. Schreiend warf er sich herum, der Sarg kippte zur Seite, er rollte sich seitlich heraus, setzte sich dann auf und streifte so schnell als möglich den Pullunder ab. Samt der Ratte schleuderte er das Kleidungsstück in die nächstbeste Ecke. Ein entrüstetes Quieken bekam er postwendend zu hören. Schwer atmend kam Spike auf die Füße und sah sich hektisch nach einer Tür um. Die fand er auch tatsächlich an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Schon wollte er darauf zustürzen, als sich etwas Neues tat. Ein eiskalter Hauch fegte ihm ins Gesicht und aus der Wand zu seiner Rechten schälte sich zu seinem Entsetzen eine Hand heraus, scheinbar gefertigt aus rauchigem Glas mit einem leichten Blauschimmer. Der Hand folgte eine zweite, dann die dazu gehörigen Arme und schließlich der Oberkörper und Kopf eines jungen Mädchens mit zwei Pferdeschwänzen. Die zweifelsfreie Geistererscheinung schwebte direkt neben Spike in der Luft, hob die Arme und gab ein schauriges Heulen von sich, das gefolgt wurde von den Worten: »Memento Mori - Du musst sterben!«

      Da gab es für Spike kein Halten mehr, brüllend stürzte er zur Tür, vorbei an einem mit schweren schwarzen Gardinen verhangenen Fenster, unter dem Töpfe voller Orchideen, fleischfressender Pflanzen und Kakteen standen. Um ein Haar wäre Spike über die weißen Plüschpantoffeln mit dem niedlichen Häschengesicht gestolpert.

      Fast hatte Spike die Tür schon erreicht, da schwang diese auf. Eine dunkle Gestalt durchtrat den Türrahmen und Spike stoppte mitten in der Bewegung. Zu über zwei Metern Höhe baute sich der Fremde nun vor ihm auf. Es bestand kein Zweifel darin, dass es der schwarze Mann von vorhin war. Auf dessen Kopf gediehen prächtig viele krause Locken, die sich, nach allen Seiten abstehend, zu einem voluminösen Afrolook vereinigten. Gekleidet war der junge Herr in eine dunkle Hose und ein rüschenbesetztes Hemd, zu dem er einen schwarzen Umhang mit innseitig silbernem Futter trug.

      »Na, alles klar? Danke für die Rettung. Fast hätte mir der Jäger alle Rippen gebrochen - ach was rede ich da, das hat er doch getan!«

      Mit geweiteten Augen starrte Spike zu ihm auf. Er wusste schon lange nicht mehr, was er von all dem halten sollte. Für einen Streich eines übergeschnappten Rollenspielers fühlte es sich alles definitiv zu real an.

      In der Hand hielt der Farbige ein stilvolles, antikes Kristallglas, das angefüllt war mit einer schimmernd roten Flüssigkeit. Unweigerlich begann Spike zu schlottern. Etwas erstaunt schaute der Fremde aus seinen grauen Augen und hielt dem Jungen dann das Glas unter die Nase: »Ach 'nen Schluck? Ist lauwarm.«

      »Iiihhh!!!« Erneut gab es für Spike kein Halten mehr, schreiend fuchtelte er mit den Armen, um den Riesen von sich fort zu drängen, mit dem Erfolg, dass sich die rote Flüssigkeit über sein weißes Hemd ergoss. Dadurch wurde Spikes hysterischer Anfall nur noch schlimmer. Wild mit den Händen rudernd bahnte er sich seinen Weg an dem Großen vorbei und aus dem Zimmer heraus in den Gang. Ohne lange zu zögern, schlug Spike nach links ein und sauste schreiend davon, so schnell ihn seine Beine trugen.

      »Och nö...«, maulte der hochgewachsene junge Mann und stierte ihm nach, »wieder alles verbockt ...« Dabei machte er ein sehr deprimiertes Gesicht, riss sich dann aber zusammen und stürzte hinterher. »Warte doch! Ich muss dir noch was Wichtiges sagen! Egal, wem oder was du hier auch begegnest, es hat mindestens genauso viel Angst vor dir wie du vor ihm! Naja, meistens jedenfalls.«

      Doch Spike hörte das schon nicht mehr, da er längst um die nächste Biegung des Ganges gebogen war, welchen nur spärlich die wenigen Kerzen in Haltern an den Wänden erhellten.

      Eine Gestalt erspähte Spike am Ende des Korridors. Hoffnung keimte in ihm auf, endlich auf einen normalen Menschen zu treffen. Mit den Armen rudernd rannte er direkt auf die Gestalt zu, die er für einen Mann im grauen Anzug hielt: »Sir, zu Hilfe! Ein Monster will mich fressen!«

      »Was,