Rudi erzählte später, auch für ihn sei diese Woche die reine Hölle gewesen. Kam er spätabends, vom Job erschöpft, nach Hause, durfte er erst einmal zusammenfegen, was meinen schwachen Fingern entglitten war, um mich hernach einzufangen, der ich durch die Bude taumelte und dabei alles Mögliche umriss.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich sonst noch alles anstellte, zu getrübt sind die Erinnerungen, nur dass ich plötzlich hellwach war und in grausamer Klarheit meine Zukunft sah, als mir Rudi mir mitteilte, dass er in der nächsten Woche auszuziehen gedachte. Da überkam mich dieser schreckliche Wutanfall, und schlug blindlings zu.
Rudi rettete sich zum Arzt unter uns und bat um Beistand, den Rasenden zu bändigen, aber dem war das eigene Fell zu kostbar und empfahl, die Polizei einzuschalten, die mit Rasern aller Art ihre Erfahrungen hatten. Darauf verzichtete der Freund lieber, und als er sich wieder ins traute Heim wagte, war der Anfall vorüber und ich halbwegs bei Verstand.
»Ich glaube, ich muss ins Krankenhaus«, murmelte ich und Rudi gab mir recht. Eben noch Todfeind, half er mir, das Nötigste zusammenzupacken und lieferte mich mich per Taxi im Urban-Krankenhaus ab.
Krisenstation. Psychiater. Gespräche. Drei Tage lag ich neben einem unentwegt weinenden Typ, der losheulte, sobald er die Augen aufschlug. Ich sehe ihn noch liegen. Zusammengekrümmt, zu fötaler Haltung, flennte er, ohne dabei Position und Tonlage zu wechseln. Dafür wechselten die Personen, die sich tröstend über ihn beugten, in schneller Folge. Die Freundin, die Mutter, die ganze weitläufige Verwandtschaft, immer war jemand anwesend, unter dessen Anteilnahme er gemütlich weiter in Tränen schwamm. Warum er weinte, erschloss sich mir nicht, denn der Mann sprach nur türkisch, aber immerhin machte er mir klar, wie gesund ich gegen ihn war.
Also packte ich mein Ränzlein und schulterte den Lebensweg. Zu Hause hatte man wenigstens seine Ruhe. Rudi war ausgezogen, und mit ihm jegliche Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Ich war allein in der fremden Stadt, ohne wirkliche Freunde, und mir grauste vor den nächsten Tagen in der riesigen Hütte.
LITERARISCHES ZWISCHENSPIEL
Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtete, nein eher im Gegenteil: es wurde ganz nett.
Im KaDeWe hatte niemand etwas bemerkt von dem veritablen Nervenzusammenbruch und Krankenhausaufenthalt, denn ich hatte bei Rudi darauf gedrungen, Schweigen zu bewahren. Offiziell war es eine einfache Grippe gewesen, die in vierzehn Tagen vollkommen auskuriert war. Man hatte mir in der Klinik angeraten, eine Psychotherapie durchzuführen, und ich hielt mich an die Empfehlung. Diesmal konnte der Arzt unter mir besser helfen. Angesprochen auf einen guten Therapeuten, schlug er ein Arrangement vor, das mir ausgesprochen gut gefiel. Er kannte da einen hoffnungsvollen Jungmediziner, der zwar mit seiner Ausbildung fertig, aber noch nicht niedergelassen war. Diesem könnte er nach Feierabend seine Praxis zur Verfügung stellen, falls die Rechnungen privat abgegolten würden, da der Mann noch keine Kassenzulassung aufweisen konnte. Man pflegte seine raren Privatpatienten in New-Colonia. Ich war begeistert, brauchte ich doch nur die Treppe herunterzulatschen, um zweimal die Woche einen späten Gesprächstermin wahrzunehmen. So merkte auch im Betrieb niemand, was vorging.
Die Versicherung zeigte sich großzügig und genehmigte fünfzig Sitzungen. Der Medizinmann gefiel mir auch, rein äußerlich zumindest, denn dieser war ein Musterbild an vornehmer Zurückhaltung.
Fortan trabte ich zweimal die Woche in Hauspantöffelchen zur Sitzung, denn von Hinlegen war enttäuschenderweise nie die Rede, und konnte anschließend mit Herby Erfahrungen austauschen. Plötzlich war ich für unseren Freund hochinteressant geworden, und er stand öfter auf der Matte, als mir eigentlich lieb war.
Überhaupt konnte von Vereinsamung, die ich so befürchtet hatte, nun wirklich nicht die Rede sein. In Nullkommanichts war meine Behausung zu einem beliebten Treffpunkt avanciert, der Intellektuellen, und etwas weniger Belesenen, offenstand. Es wurde so eine Art Salon daraus, mit mir als freundlicher Gastgeberin im Stil des 19. Jahrhunderts. Rahel Varnhagen von Neukölln.
Hausfreund Dieterchen brachte seinen neuen Freund mit, eben jenen Gastwirt vom Anderen Ufer, der selbst weit hinausgeschwommen war, in die Untiefen der Hochkultur, Schauspieler und Kulturschaffende in seinem Gefolge. Ein Kneipier mit dem unbedingten Drang zu Höherem, der als nächstes Projekt einen Verlag für außergewöhnliche Literatur plante.
Rudi war zu seinem Kollegen Norbert Tefelski gezogen, der ebenfalls aus seinem geisttötenden Beruf ausbrach, um ein alternativ künstlerisches Monatsblatt namens Kult-Uhr herauszugeben. In sämtlichen Nischen wucherten wie Wildwuchs Gegenmodelle und Experimente ohne Staatsknete. Manchmal von geradezu rührender Einfalt, und manchmal politisch brisant. Mein Salon gehörte selbstverständlich zu ersterer Kategorie, und ich fand es interessant, wie sich die Gäste den Kopf heiß redeten. Mit welcher Vehemenz sich manche in die Diskussion einbrachten! Denn neuerdings wurde nicht nur die Ernte eingebracht, sondern auch ein neues Vokabular. Sprachlich konnte man sich ein Stück weit abgrenzen, in dem man die Bedeutung mancher Adjektive einfach umkehrte, wie bei dem Wort geil, welches vorher eher negativ besetzt war. Im Kino zog man sich einen geilen Film rein, genau so, wie ein Konzert oder einen Joint, aber immerhin sprach man noch miteinander, und die Message wurde verbal vermittelt. Und wie!
Oftmals staunte ich über Herby und seinen Schatz an Fremdwörtern, die er in die Diskussion warf wie Speere ins Gefecht.
Wenn es zu abgehoben wurde und ich rein gar nichts mehr verstand, ging ich in die Küche, kochte Kaffee und schämte mich ein bisschen. Es fehlte eben ein gewisser Unterbau, eine massive Basis, die in der Schule vermittelt wurde, und ich war ein blöder Blender.
Deshalb war niemand verblüffter als ich, dass mir ausgerechnet die hochgestochene Hoffmannsche vorschlug, ein Buch zu schreiben. Zwar nur ein Kochbuch, und ein schwules obendrein, aber immerhin, Buch ist Buch.
Ich war geschmeichelt und überlegte lange, bevor ich dem künftigen Verleger absagte. Die Idee war zwar ganz schön, aber Detlevs Rezepte, so der Arbeitstitel, würde eine Mogelpackung mit satirischem Einschlag werden. Schwule kochten exakt dasselbe, wie die Heterowelt, wenn sie überhaupt einmal am Herd standen. Denn bei den meisten Schwestern, die ich kannte, rangierte die Kochkunst eher auf den hinteren Plätzen, es gab Wichtigeres. Wer in der Küche wirbelte, galt damals als ein wenig verschroben oder unattraktiv, und das stimmte nicht selten. Der gewöhnliche Homosexuelle latschte neuerdings ins Sportstudio, um fit for fun zu werden, da blieb für Kochexperimente wenig Zeit. In Berlin ernährte man sich von Currywurst und Buletten und war auch noch stolz darauf. Die Fresswelle mit den Grillhähnchen war abgeebbt und im Wienerwald selbst blieb die Küche kalt. Stattdessen schossen die Dönerbuden wie Pilze aus den Ecken, und bald war Westberlin flächendeckend mit Fladenbrot versorgt. Friss Döner, werd schöner! Wer es etwas besser mochte, ging zum Italiener und aß eine Pizza oder die Nr. 51 mit dreierlei Kostbarkeiten beim Chinamann.
Das mit der Nouvelle Cuisine hatte sich in Unternehmerkreisen noch nicht rumgesprochen, und natürlich waren die Ergebnisse später dann auch nirgendwo lächerlicher, als in Berlin. Hier war kulinarisches Niemandsland, aus welchem nur wenige Institutionen wie Leuchttürme ragten. Auch wenn die Feinschmecker-Etage meines Arbeitgebers in lichter Höhe strahlte, so gehörte ich doch nicht unbedingt zu den Experten, die locker tausend Rezepte im Hirn spazieren trugen und auf der Stelle wussten, was bei einem flotten Dreier mit Steuermann zu servieren sei. Soviel Aphrodisiaka, das für ein ganzes Buch (mit exklusiv homogenen Serviervorschlägen) reichte, gab es ja überhaupt nicht.
Also sagte ich mir wieder einmal: »Och nöö, lieber nicht.«
Aber irgendwie blieb die Sache mit dem Kochbuch in meinem Hinterkopf kleben, und in späteren Jahren, als ich Aldi täglich auf der anderen Straßenseite vor Augen hatte und dort oft den Tagesbedarf