Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3. Karl Michael Görlitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Michael Görlitz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844231502
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Volksbildung zurückgekehrt.

      Diesmal hatte er sich in Dortmund Wohnung genommen. Ausgerechnet Dortmund! War denn dem Mann völlig egal, wo er wohnte? Bochum, Dortmund, vielleicht demnächst noch Unna oder Marl/Hüls?! Trotzig verteidigte der Kleine seine Wahl. Dortmund war eine schöne Stadt, mit viel Grün, einem jahrhundertealten Stadtkern, interessantem Kulturleben und charmanten Bewohnern. Ich kannte von der Stadt zwar nur den Bahnhof und das wenige, das vom Zug aus zu sehen war, aber das reichte schon. Mutter war dort gewesen, zu Besuch bei ihrem Filius, und es hatte sie förmlich geschüttelt. Altbau natürlich, öller noch als oll, und Dreck überall. Ruhrpott eben, und der Bruder schwärmte von den Ausflugsmöglichkeiten! Ja, das mochte sie wohl glauben, alles war besser als dieses Dreckloch mit der hässlichen, verrußten Brauerei neben der Central-Station, auf der das weitbekannte U (Dortmunder Union Pils) leuchtete. Na, immerhin saß er jetzt nicht mehr weit von der Quelle.

      Mit den charmanten Bewohnern war wohl eher eine Bewohnerin gemeint, die Mutter nicht so gefallen hatte, denn Brother Peter hatte schon wieder was Neues. Kaum geschieden! Zu den Scheidungsgründen hatte sie offenbar nicht gezählt - oder doch? Jedenfalls kannte man sich...

      Und Mutter hatte es ja gleich gesagt: Irgendwann platzt auch der gutmütigsten angetrauten Krankenschwester der Kragen, mit dem ganzen Zirkus nebenher, zu dem sie keine Hilfe erhielt. Ja, und nun hatte er eine dicke Dralle, die überdies noch ein Kind mit sich rumschleppte. Einen Sohn, und ihr Sohn tat jetzt tatsächlich so, als sei es sein Sohn und entwickelte Vatergefühle für das fremde Kind. Was war die schlanke Exgattin Babette nett gewesen, auch wenn sie nicht unbedingt hübsch zu nennen war, gegen dieses Trampeltier mit Anhang, welches ihre Brut dem armen Peter ins sicherlich ungemachte Bett unterschob. Und dieser Trottel merkte es nicht einmal.

      Wiederum hatten die Drähte geglüht bei Mutters endlosen Anrufen, die so merkwürdig klangen, weil der Ton in jeder Gesprächspause weg war. Das überlastete Telefonsystem nutzte die kleinste Pause, um die freigewordene Kapazität anderen Ferngesprächen zuzuordnen, und schaltete sich erst wieder zu, sobald Töne vernehmlich waren. So bekam man die akustischen Gegenreaktionen wie gespanntes schweres Atmen, Schnaufen oder leises Stöhnen nicht mit, und nach jedem Satz herrschte tiefes Schweigen, bis der andere wieder sprach.

      Das war ziemlich irritierend, so dass man öfter fragen musste: »Bist du noch dran, Mutter?«, und natürlich war sie noch dabei, ihrem Herzen Luft zu machen. Für sie war der Fernsprecher zur Lebensader geworden, und sie machte ausgiebig Gebrauch davon. Mit meinem neuen Job war ihr ein Herzenswunsch erfüllt worden, und es war ihr Traum, mich eines Tages als Supersubstitut zu sehen. Weiter reichte ihre Vorstellung von Karriere nicht, und dass ich wie ein Abteilungsleiter bezahlt wurde, nahm sie nicht zur Kenntnis. Am Hörer war ich jetzt immer der Gute, nur wenn wir uns persönlich begegneten, traten Differenzen auf.

      Also war ich, wie immer, bestens informiert, als Peter seinen Besuch ankündigte, um sein neues Glück zu präsentieren.

      Natürlich war Peters Neue nicht annähernd so hässlich, wie die erboste Mutter geschildert hatte, und das Kind sogar ausgesprochen niedlich. Ein wenig konnte ich Peters Haltung verstehen. Nur wie er plötzlich den Vater machte, mit oberlehrerhaftem Ton dem Bürschlein die Welt erklärte, war absolut lächerlich. Das hatte schon bei unserem Vater nicht so recht funktioniert. Und ihn mit dem gleichen Getue wie sein Erzeuger zu erleben, war wie ein Déjà-vu-Erlebnis, von einem Schmierenkomödianten nachgespielt. Selbst den befehlsgewohnten Ton und die allwissende Pose hatte er übernommen. Nur das keine Heerscharen von demütigen Arbeitnehmern seinen weisen Erläuterungen Aufmerksamkeit zollten.

      Mich wies er an, die Dame nebst Kind für eine Woche zu beherbergen und zu verpflegen, da er für diese Zeit in Westdeutschland unabkömmlich wäre und seine eigene Wohnung in der Keithstraße als zu klein für die neue Großfamilie erachtete. Platz war in der Tat genügend vorhanden, davon hatte er sich schnell überzeugt, aber wie er sich mal wieder im Ton vergriff und einfach bestimmte, was zu geschehen hatte, erinnerte schon wieder ein wenig zu sehr an seinen Papi.

      Zum Befehlsempfänger hatte ich schon damals nicht so recht getaugt, und erst recht nicht bei diesem ulkigen Abklatsch von Machtdemonstration. Allerdings konnte ich eingedenk der Tatsache, dass Rudi bislang bei ihm gewohnt hatte, nicht nein sagen. Das wusste er nur zu gut. Ein kleines Bitte hätte genügt, und ich hätte selbst den Vorschlag gemacht, die arbeitende Frau zu entlasten, die in etwa das gleiche machte wie er. Als Kollegen hatte man sich wohl kennen und bei endlosem Politgeschwafel schätzen gelernt.

      Raum hatten wir wirklich genug, das große Erkerzimmer war zwar erst spärlich möbliert, aber nutzbar und im angrenzenden Zimmerchen ließ sich gut schlafen, so dass sie ihre Privatsphäre weitgehend wahren konnten. Allerdings, viel mehr Raum als in Peters Bude stand da auch nicht zur Verfügung, also was sollte der Quatsch eigentlich! Muss er sich wieder selbst beweisen und der Dame mit Kind vorführen, wie gut er alles im Griff hatte? Es würde so nicht funktionieren mit der Dame, dem Stiefsohn, und erst recht nicht mit mir. Armer Hans Peter - was Hänschen nicht lernt, Hans! Nie gelernt zu teilen, nur zu fordern.

      In passivem Widerstand war ich wohlgeübt, also gab ich scheinbar nach, um bei der nächsten Gelegenheit zurückzufedern. Zum Glück lieferte die junge Frau den Kündigungsgrund gleich selbst, dermaßen schlampig wie sie sich verhielt. Zum Dienstmädchen taugte ich nun einmal nicht, und so bat ich den Bruder nach nur drei Tagen um Expressabholung. Fisch und Besuch stinken nach drei Tagen und mir stank es gewaltig.

      Natürlich war der kleine Bruder hochempört, als er Familie und Zutaten wieder einsammeln musste und schäumte: »Du bist aber gar nicht belastbar!«

      Ich lächelte grimmig zurück und sagte fröhlich: »Nö.«

      Dabei war ich wirklich nicht mehr sonderlich belastbar, denn außer im Beruf ging noch so einiges schief, wie das nächste Kapitel zeigen wird.

      KNALL II

      Diesmal war es überhaupt nicht mehr lustig, denn ich hätte Rudi fast im Affekt erschlagen, wäre ich nicht so schwach auf den Beinen gewesen. So erwischte er leider nur ein paar Kratzer, oder besser gesagt, Gott sei Dank.

      Jähzorn ist etwas Fürchterliches, und zum ersten Mal erlebte ich buchstäblich, was es heißt, rot zu sehen. Eine grellrote Welle war über mir zusammengeschlagen, für eine Weile war ich blind für alle Vernunft und schlug zurück. Es war mir egal, was ich traf, und für einen Moment hätte ich Rudis Tod kaltherzig in Kauf genommen.

      Hinterher war ich vollkommen entsetzt über das Gewaltpotenzial, das in mir schlummert. Verfluchtes Erbe des jähzornigen Vaters. Es war wie eine Naturgewalt aus mir hervorgebrochen, ein Geysir elektrisch glühenden Zornes, alles vernebelnd. Und in schier unendlicher Höhe fiel er wieder zusammen und verschwand genau so schnell, wie er emporgerauscht kam. Für einen kurzen Augenblick waren alle Regler nicht mehr online, und das System stürzte ab, die Verbindung von Kopf zu ausführenden Organen unterbrochen. Und ich reagierte nur noch ohne Regie. Es war beschämend, aber leider war es so und lässt sich auch nicht wegdiskutieren.

      Angefangen hatte es mit einem Schäferstündchen. Ein Stündchen, bei welchem der Schäfer plötzlich keine Lust mehr verspürt, das Opferlamm zu spielen und sich kurzer Hand versagte, weiterhin überhaupt Hand anzulegen, um es mal blumig auszudrücken. Das wars dann mit uns beiden. Fortan waren wir nur noch Bekannte, die sich in ihre Wohnungshälfte zurückzogen. Experiment gescheitert. Lebenstraum, adieu!

      Ich verfiel in eine tiefe Depression. Der Weg zum Arzt war nicht sonderlich weit, also schleppte ich mich eine Etage tiefer zum Internisten und kehrte mit Krankmeldung und Medikamenten zurück. Danach rief ich bei Wolfgang in Düsseldorf an, um noch einige Privatrezepte zu ergattern. Soviel schaffte ich noch.

      »Sonnenallee! Immer wenn ich diese Adresse aufschreibe, wird mir so sonnig ums Herz. Das ist bestimmt eine besonders schöne Straße«, zwitscherte die Stimme seiner Schwester, bevor sie verband. Mädchen, wenn du wüsstest. Hier war es trübe, genau wie meine Stimmung. Trübissimo.

      Die Kastanienknospen waren noch nicht aufgegangen, und das Wetter hatte sich meinem Seelenzustand angepasst. Griesgrau! Und die Kastanien gingen mir auch am Arsch vorbei. Sollen sie doch ausschlagen. Wohin und wen auch immer. Mich hatte es vorher getroffen. Gründlich. Alles vorbei.