Uli hat nie eine strickende Mutter gehabt. Ihr eigener Umgang mit Nadeln, auf die Häkelnadel beschränkt, produzierte nichts als rosa Topflappen, die nach oben hin immer schmaler wurden. „Weißt du denn nicht was eine Luftmasche ist?“ So viel hatte die Mutter ihr dann doch noch beigebracht.
„Warum strickt deine Mutter nicht?“ will Hanna wissen. Sie hat ihr Strickzeug in den Körnerpark mitgenommen, hockt angespannt auf der Kante einer Bank und nimmt die Maschen auf. Uli wirft einen gelangweilten Blick auf das verbissene Herumstochern mit zwei Nadeln. Viel Übung scheint Hanna nicht zu haben.
„Weil meine Mutter zeichnet“, gibt Uli als Grund an. Die Eltern haben sich beim Zeichnen kennengelernt, als Teilnehmer eines Abendkurses.
„Nackte Männer und Frauen abmalen. So was erzählt man doch nicht“, denkt Uli.
„Und deine Oma?“ bohrt Hanna weiter.
„Auch nicht. Weil sie liest. Bücher und Zeitungen. Und weil sie Briefe schreibt“, erklärt Uli. „Lange Briefe. Wir haben so viele Verwandte im Osten.“
Hanna hat sich bei ihren Maschen verzählt und gibt Uli die Schuld daran. Überhaupt gibt sie gerne Uli die Schuld an allem Möglichen. Sie packt ihr Strickzeug ein.
Als Uli und Hanna auf der Treppe zur Jonasstraße zwei Mädchen begegnen, geht alles überraschend schnell. Die beiden tragen keine Kniestrümpfe mehr. Ein üppiger Busen zeichnet sich unter dem violetten Pullover der Größeren ab, eine Kette aus riesigen violetten Glasperlen liegt über ihrem Ausschnitt und rollt bei jedem Schritt ruckartig über die Rundungen.
Uli und Hanna werfen sich einen Blick zu, aber nur Hanna ist so töricht zu kichern. Den großen Mädchen ist es nicht entgangen, sie nehmen Hanna in die Zange.
„Sie hat über meinen Witz gelacht“, versucht Uli zu vermitteln und vermeidet es auf die Brüste der beiden zu schauen. Die körperliche Reife der Heranwachsenden hat etwas Bedrohliches.
„Dann erzähl mal deinen Witz!“ Höhnisches Lauern auf Ulis Versagen. Aber Uli zögert nicht, besinnt sich auf einen, den sie ihrem Paten abgelauscht hat, in den lehrreichen Besuchsrunden daheim, wenn sie unter dem Tisch kauernd die Schuhe der Verwandten und Bekannten betrachtet und ihre Gespräche zu entschlüsseln versucht hat. Sie erzählt von dem kleinen Mädchen, dem der Nachbarjunge etwas zeigt, das es von sich nicht kennt und von dem der Junge meint, die Kleine müsse neidisch darauf sein. Sie sei aber überhaupt nicht neidisch auf dieses Ding, denn wenn sie erst groß ist, wird der Junge belehrt, kann sie davon haben so viel wie sie will.
Uli ist fertig mit ihrem Witz, macht ein trotziges Gesicht und die großen Mädchen, nach einer längeren Pause, verächtlich: „Den verstehst du doch gar nicht.“
Uli verzieht keine Miene. Sie hat den Witz nie verstanden, sie weiß nur, dass die Erwachsenen sich amüsieren. Die großen Mädchen lachen nicht, doch immerhin lassen sie von Hanna ab und setzen ihren Weg fort, mit der üblichen Drohung, beim nächsten Mal gäbe es gleich eine Schelle.
Manchmal geschieht es, dass Kinder im Körnerpark in zwei Horden aufeinander losgehen. Nogatstraße gegen Emser Straße oder Schierker Straße. Uli und Hubert halten sich da heraus. Die alten Leute auf den Bänken, die ihre Ruhe haben wollen, drohen vergeblich mit welker Faust.
Die Alten verbringen oft Stunden im Park, blättern in einer Zeitung oder füttern Spatzen mit den Resten aus ihrer Schrippentüte. Sie reden nicht viel, starren ins Leere und malen mit den Enden ihres Krückstocks Kreise in den Sand. Die Alten tragen hässliche Sachen. Uli verabscheut ihre dunkle, verschlissene Kleidung und glaubt, sie hätten verlernt sich zu freuen. An hübschen Kleidern erfreut man sich doch. Die Alten aber sehen aus, als hätte der Winter sie aus Versehen sitzen gelassen.
„Auf was warten die?“ wollte Hubert als kleiner Junge einmal wissen und weniger ihm als sich selbst hatte die Mutter geantwortet: „Ich glaube, bis sie von innen ganz warm sind. Das dauert. Wie bei zähem Fleisch.“
Über dem Blumengarten hinter einer dichten, hohen Hecke liegt eine schläfrige Ruhe. An den Rosensträuchern haben sich die letzten Blüten geöffnet, kleine Köpfe in leuchtendem Rot oder Gelb, und an der mit Weinlaub berankten hohen Mauer stehen windgeschützte Bänke in Richtung Süden. Dann und wann ziehen die Propellermaschinen der Pan American Airways tief über den Körnerpark hinweg, aber niemand schaut ihnen hinterher. Zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen dösen die Leute im Sonnenlicht und genießen die Wärme.
Irgendwann sind die Singvögel weg, nur noch Spatzen und Grünfinken hüpfen um die Füße der Leute herum. Etwas zum Aufpicken finden sie immer. Kanne mit seinem Spieß hat mehr als sonst zu tun. Unter dem lichter werdenden Gebüsch liegt der Abfall des Sommers.
Wenn es kalt wird, sitzt niemand mehr auf den Bänken und die Kinder flechten lange Ketten aus bunten Ahornblättern. Wer die längste geflochten hat ist Sieger. Doch bevor sich einer zum Sieger erklärt, treten die Verlierer mit einem Fuß auf das Ende der Siegerkette und die Kette reißt auseinander.
An frühen Herbstabenden schluckt der Abgrund des Parks alle Farben und der Wind schüttelt die Zweige der hohen Baumkronen. Dann steigt aus der Tiefe ein unheimliches Rauschen. Durch das schwarze Laub blinken wie kleine Leuchtsignale die Lichter der Straßenlaternen und die Lampen in den entfernten Wohnstuben, darüber das Lichtband der belebten Karl-Marx-Straße.
Nachts, wenn die Spatzen im Efeu schlafen, erwacht die Hexe in Ulis Traum und böse Zeiten brechen an. Um den ganzen Körnerpark herum fährt sie in rasendem Tempo, auf einem Rollbrett kauernd. Die knochigen Hände umklammern das Brett, ihr schwarzes Kopftuch flattert im Wind und mit zornigem Blick verfolgt sie das Kind. Aber das Kind kann ihr entkommen und hetzt nach Hause. Auf dem kurzen Weg durch die Rübelandstraße muss es an Panzersperren vorbei. „Ja“, sagt jemand, „wir haben wieder Krieg.“ Uli wacht auf und bevor ihr Herzklopfen sich beruhigt, weiß sie: „Wir haben keinen Krieg.“
Draußen fallen ein paar vorzeitige Schneeflocken. Im Körnerpark legen sie sich wie ein flüchtiges Gespinst über die entlaubten Sträucher und dürren Hecken, deren letzte Blätter im Wind rascheln.
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