Die Mutter kniet vor Uli und schnürt ihr die Schuhe zu, zieht fester an den Bändern als sonst.
Uli blickt auf den Rücken der Ärztin, die sich zum Schreiben gesetzt hat, das Stethoskop umschließt ihren Hals wie eine Zange, deren Enden in ihrem grauen Haarknoten verschwinden.
„Negerkinder haben’s gut!“ denkt sie neidisch.
Die Schwester kommt an den Schreibtisch, beugt sich herunter und spricht mit der Ärztin. Die hebt ihren Kopf und schaut die Schwester an. Es sieht aus, als ob sie lächelt. Uli entgeht es nicht.
„Was die alles darf!“
Sie sagt es der Mutter auf dem Heimweg.
„Aha“, antwortet die Mutter zerstreut.
Am Hauseingang treffen sie Frau Hüsch, die Nachbarin.
„Alles in Ordnung?“ fragt sie. Uli nickt: „Ich habe kein TBC.“
„Das wäre ja noch schöner!“ Frau Hüsch lacht und dann fragt sie die Mutter mit gedämpfter Stimme, als würde sie belauscht: „Kommen Sie denn zurecht mit ihr?“
Die Mutter schulterzuckend: „Es ist schwierig. Ohne einen Rüffel geht es niemals.“
Frau Hüsch, als hätte sie es geahnt, betont: „Sie verachtet die Mütter.“
Gleich nach dem Ende des Krieges sei die Praxis eine Zeit lang geschlossen gewesen, sagt Frau Hüsch. Man tuschelte über ein Berufsverbot für die Ärztin.
„Umerziehung für Parteigenossen, vermutete man.“ Frau Hüsch hebt ihre Schultern. Genau wüsste sie es natürlich nicht.
„Ach was“, sagt die Mutter halblaut.
Vom Pfannen säubern in einer Klinik will die Nachbarin gehört haben. Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Immer noch besser als Trümmerberge abräumen.“ Dabei schaut sie auf ihre eigenen Hände.
„Nun ja, wir haben den Krieg verloren!“ Mehr fällt der Mutter nicht ein.
„Es dauerte nicht lange, bis sie zurückkam“, fährt die Nachbarin fort, „und alles ging weiter wie zuvor. Und wissen Sie, was die Leute noch gesagt haben? Sie soll ihre kleine Jüdin versteckt haben!“
„Ach was“, sagt die Mutter noch einmal.
Frau Hüsch schweigt. Sie beobachtet die Mutter und fragt: „Ist sie noch da, die Schwester?“
„Noch da?“ Die Mutter schaut Frau Hüsch verwundert an. Natürlich sei eine Schwester in der Praxis. „Zum Glück!“ meint sie. „Eine ausgesprochen freundliche Person.“
„Ja, gewiss!“ Frau Hüsch spitzt ganz leicht die Lippen. „Sagt man nicht auch: die bessere Hälfte?“
Oben, als sie vor der Wohnungstür steht, tippt die Mutter sich kopfschüttelnd an die Stirn.
„Was ist denn?“ will Uli wissen.
„Bessere Hälfte! Was manche sich so ausdenken“, sagt sie, ohne Uli eine Antwort zu geben.
Die Pockenschutzimpfung für Uli wird nicht bei der Kinderärztin, sondern beim Hausarzt der Großmutter durchgeführt, wo es keine zermürbenden Wartezeiten gibt. Im Sprechzimmer sitzt eine Schwester am Labortisch, darauf eine riesige Glasglocke, in der es von weißen Mäusen wimmelt. Kleine rosa Pfötchen stemmen sich gegen die Glaswand, winzige zitternde Schnauzen suchen vergeblich ein Schlupfloch ins Freie.
Sprachloses Staunen von Uli beim Anblick der Glasglocke. Die üppige, hochgewachsene Schwester trägt einen blütenweißen Kittel mit kurzen Ärmeln. Sie wendet Uli ihr großes, hübsches Gesicht zu, öffnet ein wenig die rot geschminkten Lippen und lächelt. Dann nimmt sie einen Gummischlauch zwischen Daumen und Zeigefinger und schließt ihn an das Innere der Glocke. Unter kurzem Zischen öffnet sie das Ventil einer Flasche am anderen Ende des Schlauches und mit einem Schlag fällt der wimmelnde Haufen in sich zusammen. Eine reglose Masse weißer Mäuse liegt übereinandergeschichtet auf dem Boden des Glases, hier und da zuckt noch ein Beinchen.
Uli rührt sich nicht. Sie sagt nichts. Dass die Mäuse tot sind, sieht sie selbst.
4. Ziegenbockseele
Früh morgens um halb sechs singen sie nicht, jetzt zur Mittagszeit, in der strahlenden Sonne eines klaren Himmelfahrtstages, an dem, nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit, ein frischer Wind weht. Kein Tag für Sommerkleider und Uli, die sich gerade aus einem Katarrh herausgequält hat, soll auf dem Balkon eine Mütze tragen. Von dort blickt sie auf eine Menschenmenge, die sich nach und nach auf dem Platz vor der Feuerwache versammelt.
Bis tief in die Nacht haben die Zimmerleute getrunken, gesungen und getanzt, unten in der Kneipe. Das ganze Haus hat gebebt, bis in das Dachgerüst hinauf, unter dem rhythmischen Stampfen ihrer schweren Schuhe und dem schallenden Abklatschen. Dazu endlose Gesänge.
Früh morgens um halb sechs dröhnte es aus einem offenen Fenster. Darum aufgeschaut, fest Gerüst gebaut.
In dem von Bierdunst geschwängerten Gastraum drängten sich weit über hundert Leute, vorwiegend Männer, kräftige Kerle, einige sind mit ihren Familien gekommen.
„Wo die geschlafen haben bis in den Vormittag hinein?“ fragen sich die Eltern. Beide haben in der Nacht kein Auge zugetan.
Einen Tag zuvor war der Wagen der Berliner Kindl-Brauerei mit den beiden Kaltblütern vorgefahren und die stämmigen Bierkutscher mit ihren langen Lederschürzen vor dem Bauch hievten die schweren Holzfässer vom Wagen und rollten sie durch eine Klappe in den Keller der Kneipe, während die Pferde ihre Mäuler in die Hafersäcke tauchten, die man ihnen umgehängt hatte, und dösig auf den Körnern herummalmten. Hubert und andere Jungen auf der Straße standen daneben und starrten wie immer nur auf das Glied der Tiere, wie es lang und länger wurde, bis es wie ein kleiner Rüssel zwischen den Flanken hing und dann in kräftigem Strahl den Urin ausstieß, der sich schäumend am Rinnstein sammelte und in einen Gully abfloss. Kaum war die Bierkutsche fort, fuhr der Eismann mit heiserem Hupen im dreirädrigen Lieferwagen vor und parkte am Straßenrand zwischen den dampfenden Pferdeäpfeln. Durch die hintere Klappe des Autos fuhr er mit einem Eisenhaken in den Laderaum, eine längliche Eisstange schlingerte nach vorne, wurde in einen Lederschurz gehüllt und von dem Mann im Eiltempo an die Kelleröffnung getragen, etliche Male.
„Wo die alle herkommen?“ Die Eltern sehen immer mehr Zimmerleute zur Kneipe strömen, alle mit Bündel und Wanderstab, sehr adrett die weißen Hemden.
Die Nachbarin Frau Reiss ist einfach heruntergegangen und hat sich unter die Leute gemischt. Man kann aus der Kneipe frisch gezapftes Bier holen, Hubert wird hin und wieder vom Vater mit einem Bierkrug nach unten geschickt.
Ein paar Gäste aus Holland seien dabei, berichtet Frau Reiss, ansonsten kämen einige aus dem Ruhrgebiet und aus dem Norden und mehrere aus Ostdeutschland. Die wollten ihrem Regime zeigen, dass sie selbstständige Handwerker sind, die sich nicht in eine staatliche Genossenschaft pressen lassen, und ihre Verbindungen zum Westen halten.
„Die Funktionäre im Osten nennen sie Krauter und legen ihnen alle möglichen Steine in den Weg,“ erzählt Frau Reiss. Umso besser, findet sie, dass alle ihre typische Kluft mit den schwarzen Schlaghosen tragen, mit Wams und Hemd, einem Schlapphut oder Zylinder und manche mit einem goldenen Ohrring.
„Ehrliche Leute, heißt es“, schwärmt die Großmutter, voller Sympathie für ihre Traditionen. „Und das vor unserer Haustür!“
„Mit zünftigen Gesellenliedern“, ergänzt der Vater schmunzelnd. Und die Mutter: „Hauptsache, nicht zotig!“
Frau Reiss lacht kurz auf, dann sagt sie: „Der goldene Ohrring ist für die Beerdigung.“
„Wie