Café Messerschmidt ist weggezogen. Gudrun Parnitzke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Parnitzke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741857218
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Todes. „Täglich in schwindelnder Höhe!“ gibt sie zu bedenken. Da könne es schnell mal aus sein.

      „Wer schon vorher reichlich trinkt, kann ja nicht mehr viel versäumen“, bemerkt die Mutter spitz. Die gestörte Nachtruhe hat sie reizbar gemacht.

      Unten auf dem Platz ist ein Gewimmel von Menschen, viele Kinder darunter, die sich gegenseitig jagen. Ein Kreis bildet sich, wieder Männergesang.

      Uli will auf die Straße, trotz der gerade überstandenen Krankheit, und die lästige Mütze, ohne die sie nicht gehen darf, nimmt sie in Kauf. Ihre rechte Hand umklammert eine kleine Holzpuppe, von der sie sich nicht trennen wollte, solange sie mit Fieber im Bett lag, einen kleinen Sternsänger, der zum Weihnachtsschmuck gehört. Bevor er mit den anderen Figuren in Seidenpapier gewickelt in einem Karton verschwinden sollte, hatte Uli ihn an sich genommen. Sie liebt ihn wegen seiner sanften Miene und der Hingabe zum Gesang, die sich darin ausdrückt.

      In der Mitte des Platzes stehen sich zwei Reihen von Zimmerleuten zum Abklatschen gegenüber, Uli kennt das von den größeren Mädchen, wenn sie auf der Straße ihre Geschicklichkeitsspiele vorführen.

      Unter den Kindern ist eins, das nicht mithalten kann beim Jagen, ein Junge mit schmalem Kopf, von schmächtigem Körperbau. Zwei eng zusammenstehende Augen mustern Uli.

      Was sie hier zu suchen habe, fragt der Kleine und Uli erschrickt vor seinem Blick. Mit blassen, dünnen Händen versucht er sie fortzuschieben und Uli weicht einen Schritt zurück.

      „Spinnenhände“, denkt sie. Natürlich hat sie sofort bemerkt, dass der Junge hinkt. Mit der rechten Fußspitze berührt er knapp den Boden, zieht das Bein nach. Kraftlos wie ein schwächeres Geschwisterkind hängt es neben dem gesunden Bein herunter, der verkümmerte Fuß steht schief.

      Wieder wird Uli von dem Kind zur Seite geschoben, die spitzen Gelenkknochen der schmalen Fäuste bohren sich durch ihre Jacke.

      „Du gehörst nicht hierher!“

      Dass Uli hier zu Hause ist, scheint er nicht zu begreifen. Uli ist die Fremde und bekommt es zu spüren. Vergeblich versucht der Junge sich an ihr hochzuhangeln, um ihr die Mütze vom Kopf zu reißen und sie wagt nicht das Kind zurückzustoßen. Es könnte straucheln und am Boden liegen bleiben mit verdrehten Gliedern.

      Als der Junge entdeckt, dass sie schützend ihre linke Hand über die Holzpuppe hält, greift er nach der Figur. Uli dreht ihm den Rücken zu, aber er lässt sich nicht abschütteln, als sei er wütend, dass Uli etwas beschützt. Und dann gelingt es ihm doch der Puppe einen Arm abzureißen. Uli bückt sich rasch zwischen den Beinen der Leute, taucht wieder auf, das Ärmchen in der fest geschlossenen Faust geborgen. Sie sieht wie der Junge sich zwischen den Erwachsenen davonmacht, fühlt sich noch einmal von seinem tückischen Blick berührt, als er sich umdreht, und empfindet einen Ekel.

      „Ziegenbockseele“, geht es ihr durch den Kopf. Beklommen zieht sie sich aus der Menschenmenge zurück.

      Oben auf dem Balkon gesellt sie sich zu den Eltern. Die Zimmerleute lassen das Bier in gläsernen Stiefeln kreisen und trinken unter dem anfeuernden Beifall der Menge so viel wie ihren Kehlen fassen können. Einer von ihnen, ein bärengleicher Kerl, der alle überragt, stemmt einen besonders großen Stiefel in die Höhe.

      „Das sind doch mehr als zwei Liter“, vermutet der Vater.

      Der Zimmermann trinkt und trinkt, er wankt kurz, trinkt weiter, leert unter immer lauter werdendem Johlen und Applaus den Stiefel, setzt ihn ab, schwankt für einen Moment und steht.

      Den hinkenden Unhold mit der Ziegenbockseele kann Uli in der Menge nicht mehr ausfindig machen. Das mit der Ziegenbockseele weiß sie vom Vater. Böse Menschen haben eine. „Ob sie damit auf die Welt kommen?“ Uli hätte es gerne gewusst. Noch nie hat sie den Vater gefragt, vielleicht weil sie ahnt, dass er auf solche Fragen nicht vorbereitet ist.

      5. Fremdes Pflaster

      Uli streicht mit dem Zeigefinger über die geschliffene Oberfläche von Großmutters Bernsteinbrosche. Der riesige Anisbonbon. Anis wärmt. Bernstein wärmt auch, doch nur, wenn er auf der Haut liegt.

      Die Großmutter trägt die Brosche am Ausschnitt ihres rohseidenen Kleides in Violett, das der Schneidermeister Großmutters gebeugter Haltung angepasst hat. Vorne ist es kürzer als hinten, damit der Saum nicht die Schuhspitzen berührt, und dennoch tief genug, um die Hässlichkeit der orthopädischen Maßschuhe ein wenig zu verdecken.

      Zum Schneidermeister fährt die Großmutter mit der S-Bahn nach Lichterfelde-West.

      Uli hüpft an Großmutters Seite über das bucklige Straßenpflaster im Gardeschützenweg, ihre neue Puppe im Arm. Auch die Puppe braucht ein Kleid. Uli hüpft über weiße Blütenblätter, die auf dem Gehweg liegen. Die Zweige der Jasminsträucher biegen sich über schmiedeeiserne Gartenzäune. Beim Hüpfen verliert die Puppe ihren Schlüpfer. Ein großer Mann hat Uli eingeholt und hält den Schlüpfer zwischen Daumen und Zeigefinger hoch.

      „Gehört das deiner Puppe?“

      Beschämt schüttelt Uli den Kopf.

      „Also, so etwas!“ Die Großmutter entschuldigt sich und nimmt unter routiniertem „Tausend Dank!“ dem Mann das Höschen ab. Der lüftet seinen Strohhut und geht mit großen Schritten davon.

      „Siehst du“, sagt die Großmutter, laut genug, damit der Mann es noch hören kann: „Das ist ein Kavalier!“

      Da schämt sich Uli noch mehr, obwohl sie nicht einmal weiß was Kavalier bedeutet, ein Wort, das zu einer ganz eigenen Großmuttersprache zu gehören scheint. „Tausend Dank!“ oder „Verbindlichsten Dank!“ Das sagt nur die Großmutter. Und nur sie findet etwas „kolossal“ oder „famos“ oder „vorzüglich“. Die Mutter sagt niemals „vorzüglich“. Manchmal ruft die Großmutter „Ach, du Grundgütiger!“ aus, schaut zum Himmel auf und faltet die Hände vor der Brust wie die Mutter Gottes an einem Tiroler Kreuzweg. So viel Reiseerfahrung hat Uli schon. Auch das Wort „Diarrhö“ hat Uli nur von der Großmutter gehört. „Ich habe Diarrhö.“ Offenbar eine seltene Großmutterkrankheit, die mit einem ausgehauchten Ö endet.

      In der hellgrauen Villa gibt es viel Stuck an den Wänden, im Flur Marmor, wenngleich etwas vergilbt, stumpf geworden und rissig. Die Großmutter läutet an der Tür zur Schneiderei im Erdgeschoss. Ein goldener Klingelknopf unter goldenem Namensschild, auf dem Weber steht.

      Uli, neugierig abwartend, als die Tür aufgeht, mustert den zierlichen Mann mit dem kahlen Kopf.

      „Ich bin Herr Weber“, stellt er sich Uli vor. „Lustig, nicht wahr?“

      Der Schneidermeister Weber kichert und beobachtet, ob das Kind den Witz begreift, doch Uli, unsicher, was der Mann von ihr erwartet, verzieht keine Miene.

      Mit langen, blassen Fingern nimmt der Schneidermeister bei der Puppe Maß, betastet den Puppenleib. Uli betrachtet die Finger zum Betasten von Leibern und Stoffen. Sie bewegen sich sicher und flink.

      Frau Weber ist dünn, hat flache Brüste und ein schiefes Gesicht. Sie riecht aus dem Mund, wenn sie mit dem Gatten lacht. Zu lachen gibt es viel, denn der Gatte ist immer zu Scherzen aufgelegt.

      „Schau mal nach oben!“ fordert er Uli auf. Er zieht an einer goldenen Kordel und versetzt ein rundes Mobile in Bewegung. Bunt gefiederte Vögel mit goldfarbenen Glaskörpern schwirren unter einer Stuckrosette im Kreis. Uli, die sie längst entdeckt hatte, starrt gebannt auf ihren Flug. Sie erschrickt vor dem durchdringenden Zwitschern einer Lerche, das zwischen den Lippen von Herrn Weber hervorquillt. Die Großmutter, in steifer Pose auf einem echten Rokokosessel, klatscht in die Hände.

      „Bravo!“ ruft sie und sagt, das sei ganz famos. Uli solle auch klatschen. Aber Uli verschränkt die Arme hinter ihrem Rücken. Herr Weber entfernt ein grünes Plättchen von seinem Gaumen: die Lerche.

      Den Rokokosessel, erzählt er, habe er 1945 aus der brennenden Requisitenkammer seines Theaters gerettet. Ja, früher, schwärmt er, da habe er die Lady Milford und das Fräulein