Trotz ihrer osteuropäischen Abstammung hatten sie – Mom und Dad – schon immer ein Faible für den amerikanischen Traum, Patriotismus und republikanische Ideale gehegt. Interessante Kombination, oder?
In ihrer Heimat hatten sie immer als Spinner gegolten, als Freaks, die man bei jeder Gelegenheit benutzen konnte, um sich selbst aufzuwerten; um über sie lachen und sich besser fühlen zu können.
Wäre Paul nicht gewesen, hätte ihr Vater sich sicher mittlerweile in einem Whisky-Vollrausch mit seinem '45er Colt Revolver eine Kugel in den Kopf gejagt. Diesen bewahrte er übrigens - wie jeder andere pflichtbewusste Familienvater - sorgsam unter dem Kopfpolster (und dem militärischen Bürstenschnitt seines Kopfes) auf seiner Seite des Bettes auf.
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Kurt hatte von alledem keine Ahnung.
Sein Verständnis der unperfekten Realität um ihn herum reichte nicht bis zu seinen Eltern. Er liebte seine Eltern, trotz der Tatsache, dass er täglich angeschrien und runtergemacht wurde. Er dachte - wie wohl alle Prä-Teenager in ihrem Rest von kindlichem, perfekten Idealismus – nicht im Traum daran, dass es seinen Eltern irgendwie schlecht gehen könnte; dass sie Probleme haben könnten, mit denen sie aus belanglosen Gründen niemals fertig werden könnten. Und schon gar nicht daran, dass der Stolz und die Beruhigung, dass ihre Kinder vielleicht doch in ihrem Leben allein bestehen konnten, das Einzige war, was ihnen noch echte Freude bereitete und sie noch am Leben erhielt.
Eltern sind für ihre Kinder immer unbesiegbar – wenigstens bis zur Pubertät.
Nein, daran dachte er nicht einmal. Kurt schwankte meistens zwischen frustrierter Aggression durch die permanente Aufmerksamkeit, die wie ein Scheinwerfer auf seinen Bruder gerichtet war (anstatt wenigstens manchmal auf Kurt selbst), und resignierter Apathie, die ihm das tägliche Leben aufdrängte - das für ihn größtenteils aus Entwürdigungen und Geringschätzung und unerfüllten Erwartungen bestand. Dabei dachte er übrigens noch gar nicht an seine körperlichen und psychischen Wunden, die ihm jeden Tag durch Paul und dessen Kollegen von Schulterroristen zugefügt wurden.
Kurt hätte so ein netter Junge werden können. Wenn man ihn nur gelassen hätte.
Er hatte eigentlich keine wirklichen Interessen, ließ sich durch den Tag treiben und wartete verzweifelt auf ein Zeichen, auf eine Spur eines Ziels, das er verfolgen konnte, das er verfolgen wollte, dass einen wirklichen Sinn machte. Einfach irgendetwas Gutes, an dem er sich festhalten konnte.
Natürlich fand er nichts. Nichts Ultimatives. Jetzt noch nicht.
Die Schule war Kurt, im Gegensatz zu seinem perfekten Bruder, nicht wichtig und sein Dad prügelte sowieso auf ihn ein, ob er nun A’s nach Hause brachte oder F’s. Wahrscheinlich würde sich nicht einmal etwas daran ändern, wenn er an einem Tag eine Auszeichnung als Amerikas klügster, genialster, frühreifster Schüler daher schleppen und am nächsten Tag mit einem blauen Auge nach Hause kommen würde, weil er seinen Lehrer als Schwuchtel beschimpft hätte.
Aber Kurt war seinem Dad deswegen nicht böse. Natürlich wurde er während der Schläge rasend wütend, aber er hätte nie zurückgeschlagen. Er verstand irgendwie langsam, warum sein Dad das tat. Das tun musste.
Dad war unzufrieden und machtlos, etwas daran zu verändern. Dad hasste sein Leben. Und ihm fehlte einfach die Kraft dazu, den unbegabteren, unfähigeren Sohn von beiden auch noch abgöttisch zu lieben.
Es waren nicht mal die Schläge, die Kurt jedes Mal dabei die Tränen in die Augen schießen ließen, es war das Schluchzen und Weinen seiner Mutter aus der Küche.
Es war die Hilflosigkeit, die absolute Gewissheit, dass sie selbst nichts dagegen unternehmen oder es gar verhindern konnte.
Und Mom wusste auch gar nicht, was sie anderes hätte tun sollen, als ihren Mann anzuschreien und irgendwie von den armen, blutenden Jungs loszureißen, ihm ein kaltes Bier in die Hand zu drücken und ihn mit allen Mitteln, davon abzulenken, nochmal die harte Faust niedersausen zu lassen; ihn nur irgendwie aus der Wohnung kriegen, und wenn sie ihn buchstäblich aus der Tür schieben musste. Als sich alles wieder beruhigt hatte, pflegte sie ihre Söhne, so gut es ging mit den wenigen Medikamenten, die sie sich leisten konnten, oder die sie bei den Nachbarn unentdeckt mitgehen hatte lassen. Sie konnte sich nicht wehren. Sie konnte nur weinen, pflegen, trösten und verdrängen.
Da Kurt Powell als Kind nie der wirklich hellste Kopf gewesen war, hatte er einen kleinen Wunschtraum, den er seiner Mutter immer nach den (mehr oder weniger) sporadisch stattfindenden Prügel- und ihren anschließenden Pflegeepisoden erzählte. Wenn sein Dad einmal tot wäre (was er nur in leisestem Flüsterton zu sagen wagte), würde er ihn begraben und dann seine Mom heiraten und sie müsste dann nie mehr weinen.
Wenigstens schaffte er es damit - wenn auch nur für ein paar Minuten -, dass sie lächeln musste, egal wie kindlich und naiv sich das anhörte oder wie ernst sie ihn dabei nahm. Dabei sah Kurt sie jedes Mal in ihre blonden, langen Haare weinen, die - an manchen Stellen schon früh grau geworden und verzweifelt wieder hellblond gefärbt waren - ihr in vollen Strähnen vom Kopf ins müde, faltendurchzogene Gesicht fielen.
Kurt besaß soviel Mitleid, soviel Leidenschaft und soviel Dummheit. Das Mitleid wurde ihm jedoch durch die tägliche emotionale Folter immer stärker genommen.
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Dad redete viel über Krieg, vor allem über den einen Krieg, der gerade in Vietnam (oh, Entschuldigung - in Charlie-Land) wütete. Mittlerweile hatte sich die gesamte Familie von ihren polnischen Wurzeln entfremdet und vollkommen dem amerikanischen Patriotismus jener Zeit verschworen. Ein Lehrbuchbeispiel für den echten 'american way of life'.
Dad war in seinem Element. Er saß, von seinen beiden Jungs, drei ihrer Freunde und zwei Six-Packs Dosenbier umringt, auf einem alten vergilbten Campingsessel im Innenhof des Apartmentblocks, in dem sie alle wohnten. Vor Dads Füßen stapelten sich schon ein paar Dosen und sein Mundwerk war im Gegensatz zu sonst schon ordentlich gelockert „Ich bin wirklich froh,“, meinte Dad überschwänglich, „dass den verdammten Charlie-Schweinen endlich mal gezeigt wird, wo der Hammer hängt. Wir Amerikaner sind doch nicht irgendwelche verweichlichten Schwuchteln, die man herumschubsen kann, wie es einem gefällt.“ Mom und Dad hatten sich bereits seit ihrer Ankunft in den Staaten als wahre Amerikaner bezeichnet, was sie genau genommen rechtlich ja auch waren.
„Jetzt, wo diese Scheiß-Kommunisten-Wichser anfangen, diesen verdammten Ho-Chi-Minh-Pfad zu bauen“, meinte ihr Vater mit einer Dose Bier in der Rechten und immer lauter werdender Stimme, die geballte linke Faust immer wieder auf den linken Oberschenkel knallend, „jetzt fängt sie an, die Zeit für unser Land zu KÄMPFEN, uns vor dem Feind zu verteidigen!“
Dad dachte dabei, wie viele andere Amerikaner dieser Zeit, nie an die Zehn- und Hunderttausende von toten, bäuerlichen Zivilisten und die sich gegenseitig über den Haufen knallenden Soldaten des Nordens, Südens und Amerikas. Und schon gar nicht daran, dass der Konflikt Jahre andauern würde, ohne ein nennenswertes Ergebnis zu liefern – außer die amerikanische Wirtschaft dramatisch aufzubessern -, bis es zum tragischen Ende kommen sollte.
Sie als Amerikaner müssten, brauste Dad auf, endlich aufwachen und kapieren, dass der Kommunismus immer weiter vordringe und dass man dies verhindern müsse und Paul würde ihnen schon allen zeigen, zu was ein Amerikaner fähig wäre, wenn seine Zeit einmal in ein paar Jahren kommen würde, diesen elenden Dreckskerlen.
Jetzt redete er schon wieder über Paul. Nie lobte er Kurt! In solchen Momenten hätte er Paul erwürgen können. Immer nur Paul dies, Paul das! Dad sollte ihn endlich auch einmal so ansehen! Er hasste Paul! Er hasste ihn wirklich. Aber er hatte nie den Mumm gehabt, sich zu wehren. Oder die Kraft. Oder die Skrupellosigkeit. Und Paul wusste das ganz genau, als er ihn jedes Mal mit einem triumphierenden Lächeln ansah, wenn Dad ihm den Kopf tätschelte und Kurt ignorierte.
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Nachdem