Wolfgang hatte seiner Schwester aufmerksam zugehört als müsse er die Erinnerung von weither holen. Er blickte nachdenklich und traumverloren auf das Bild einer Produktionsfirma mit einigen rauchenden Schornsteinen, das neben dem Kamin hing. Er kämpfte gegen seine eigene Rührung: Tatsächlich fragte mich Vater ein paar Monate später, ob ich sein Teilhaber werden wollte, erinnerte er sich.
- Ich habe ja gesagt, sagte er mit fester Stimme. Es war genau das, was ich wollte. Ich wollte das Erbe meiner Vorfahren antreten und das Werk erfolgreich weiter entwickeln. Ich wollte die Firma größer und weltweit bedeutend machen. Ich wollte neue Produkte auf den Markt bringen, die internationale Anerkennung brachten, die den Menschen bei ihrer Krankheit helfen könnten und die auch für die Menschen der Dritten Welt erschwinglich sein sollten.
- Sie fügte hinzu: Du hast es geschafft, hast die Firma jahrelang erfolgreich geführt. Und das wirst du auch noch weitere Jahre tun müssen, wenn du dir nicht rechtzeitig einen Nachfolger aufbaust. Das wird nach den derzeitigen Umständen ziemlich bald geschehen müssen. Du weißt, genau daran scheitern viele Familienunternehmen.
- Wolfgang erhob sich und blickte auf die Uhr: Ich werde das entscheiden, wenn es so weit ist, sagte er.
Aufstieg zum Vulkan
Julia hatte ihren Bruder aufgesucht und zu einem vertraulichen Gespräch gebeten. Es ging um das leidige Thema der fehlenden Wirkstoffe. Sie hoffte, in einer persönlichen Aussprache die dringend benötigten Lieferungen beschleunigen zu können. Sie wollte ihm auf die Notlage ihrer Patienten aufmerksam machen.
Während eines Spaziergangs am See mit Blick auf die Berge hatte Julia ihren Bruder gefragt, ob er sie nicht nach Nicaragua begleiten wollte. Der Anblick erinnerte sie an den Nicaragua See: Bei uns ist es auch so schön, aber wir haben viel besseres Wetter, sagte sie. Er müsse es selbst sehen und könne sich dort auch einen Eindruck von Ihrer Arbeit machen, und außerdem würde ihm die Abwechslung gut tun. Sie könnten dort auch in Ruhe den Geburtstag ihres Vaters besprechen. Hinrich war einverstanden, ihm stand ohnedies der Sinn nach etwas Abstand von der Familie und den Problemen in der Firma.
Schnell waren die Sachen gepackt. Flüchtig verabschiedeten sie sich von ihrem Vater, dem sie alles Gute und vor allem Gesundheit wünschten. Sie flogen von Frankfurt nach Managua, Sandino International Airport. Sie wurden von Michel, Julias engstem Vertrauten, in der Ankunftshalle am Gepäckband erwartet. Überschwänglich nach südamerikanischer Art, begrüßten sie sich. Julia machte ihn mit ihrem Bruder bekannt.
Die Männer verstauten das Gepäck in seinem Toyota RAV4 Executive. Michel fuhr zur pazifischen Küstenebene nach Chichigalpa rund 120 Kilometer nordwestlich von Managua zur Zuckerrohrplantage, wo sich Julias Institut befand. Sie fuhren durch endlose Zuckerrohr- und Kaffeefelder.
- Während der Fahrt gab Julia ein paar Hinweise zur Geschichte der Plantage: Die Plantage gehört seit vielen Jahren einem US-amerikanischen Konzern: Sugar Estate Limited. Sie besitzen mehrere Plantagen in der Region und auch in anderen Ländern. Früher gehörte sie einem der Zuckerbarone, die auf Kosten ihrer Sklaven sehr reich wurden. Die Sklaventreiber wurden im 19. Jahrhundert nach der Revolution aus dem Land vertrieben. Die Firma stellt mehrere Arten von Zucker her. Aber im Wesentlichen wird der braune Saft des Zuckerrohrs zu Rum gebrannt und unter verschiedenen Marken in alle Welt verkauft. Damit wird das große Geld verdient. Leider bleibt davon nur wenig hier im Land, weil die Gruppe ihren Firmensitz aus steuerlichen Gründen auf die Bahamas verlegt hat.
- Arbeitest du für die Firma?
- Nein nicht direkt, aber ich habe mein Forschungsinstitut auf ihrem Gelände. Insofern haben wir viele Berührungspunkte. Schließlich ist die Firma für die Erhaltung der Gebäude und Anlagen zuständig. Letztlich gehört ihr alles. Außerdem versuche ich, ihre Arbeitskräfte gesund zu machen. Dafür zeigen sie sich wenig erkenntlich. Sie sind sehr knauserig mit dem Geld. Die Verantwortlichen lassen sich nur selten hier sehen. Wahrscheinlich haben sie Angst vor der Bevölkerung. Sie haben einen Aufseher hier vor Ort, der die Menschen zur Arbeit antreibt. Das ist es dann auch.
- Ich sehe fast keine Menschen. Wo sind sie? Auf den Feldern bei der Ernte?
- Julia erklärte: Nein, die Erntezeit ist vorbei. Die Arbeiter leben irgendwo in der Stadt oder im Umland. In früheren Jahrhunderten wurde die Ernte fast ausschließlich von schlecht bezahlten Sklaven aus Afrika geleistet. Sie starben früh an Entkräftung und Krankheiten. Grundlegend hat sich die Situation nicht verändert. Die Lebenserwartung der Arbeiter beträgt auch heute noch kaum vierzig Jahre. Krankheiten entstehen durch Erschöpfung, schlechte Ernährung, Pestizide und durch das ungesunde Klima. Häufiges Fieber und Nierenversagen breiteten sich wie eine Epidemie aus. Auch heute noch werden Kinder zur Arbeit eingesetzt, weil sie weniger Geld verlangen. Die Haupternte des Jahres fällt in die Monate April bis Juli. Sie ist jetzt schon fast vollständig eingebracht. Die Menschen leben von dem Ertrag ihrer Arbeit. Das reicht kaum aus zum Leben.
Nach gut zwei Stunden Fahrt erreichten sie die Plantage. „Flor de Cana. Zutritt streng verboten“ stand auf dem Torbogen über der Einfahrt. Die Einfahrt war mit einer Schranke versperrt. Zäune aus Stacheldraht soweit man sehen konnte. Auf der rechten Seite ein Wachhäuschen. En bewaffneter Mann in Uniform trat heraus und grüßte die Ankommenden. Misstrauisch blickte er in den Wagen und konnte nichts Verdächtiges sehen.
- Michel grüßte lässig: Alles Okay.
Der Mann nahm Haltung an und salutierte. Die Schranke wurde geöffnet, sie fuhren durch endlose Zuckerrohrfelder weiter zum Dorf, das sie nach etwa einem Kilometer erreichten.
Ein Blütenmeer umgab das Dorf wie ein undurchdringlicher Schutzwall. Er verstellte den Blick für die harte Wirklichkeit, die sich dahinter verbarg: Arbeitslosigkeit, Armut, Drogen, Unterernährung und Krankheiten. Fast unbekleidete Kinder spielten auf der Straße. Sie führte zu einem Platz. An der Ecke ein flaches, langgestrecktes Gebäude.
- Das ist unser Forschungsinstitut, sagte Julia. Gleich daneben befindet sich das große Krankenhaus und gegenüber liegt die Schule. Dort gebe ich gelegentlich Musikunterricht für die Kinder, wenn ihre Lehrerin nicht da ist. Die Arbeit mit den Kindern macht mir viel Spaß. Sie ist ein gewisser Ausgleich für meine anstrengende Arbeit im Institut.
Ohne weiteren Aufenthalt fuhr Michael auf direktem Weg zu Julias Haus, damit sie sich etwas frischmachen und umziehen konnten. Sie bewohnte ein komfortables Haus, das vor der Jahrhundertwende einem Plantagenbesitzer, einem der reichen Zuckerbarone, gehört hatte.
Der Wagen hielt vor dem Eingang. Eine leicht verfallene Steintreppe führte zum Erdgeschoss. Die Villa hatte sicher einmal bessere Tage erlebt, als hier noch Feudalherren residierten. Michel winkte einem jungen Mann, der wortlos das Gepäck ins Haus trug. Es bot genügend Platz für ihren Gast, der ein geräumiges Gästezimmer mit separatem Bad erhielt. Sie verstauten provisorisch ihre Sachen, um genügend Zeit für die Besichtigung ihres Instituts zu haben.
Den kurzen Weg zum Institut fuhren sie mit Michels Wagen. Es war ein langgestreckter Flachbau, wohl etwa vor zwanzig Jahren errichtet. Sie gingen zunächst in ihr Arbeitszimmer, wo sie einen kurzen Blick auf einige Statistiken und Berichte warf. Julia schien mit den Berichten zufrieden zu sein.
Anschließend besuchten sie die Laboratorien: Weiß gekachelte Räume und Tische mit Wasseranschluss und unzähligen Phiolen, Regalen und Bunsenbrennern. Julia begrüßte ihre Mitarbeiter, die respektvollen Abstand wahrten. Sie erkundigte sich bei jedem einzelnen, den sie mit vollem Namen ansprach, wie es ihm ginge, was Frau und Kinder machten und wie die Arbeiten vorankämen. Hinrich konnte kein Wort verstehen, weil sie Spanisch sprachen, aber die Antworten schienen auf keine besonderen Probleme