- Etwas mitleidig und zugleich vorwurfsvoll blickte sie ihren Bruder an: Du arbeitest zu viel. Du solltest Dir ein paar Tage Erholung gönnen. Etwas Entspannung täte dir bestimmt gut. Mach ein paar Tage Urlaub. Du hast ihn dir redlich verdient.
- Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab: Urlaub kann ich mir jetzt nicht leisten. Du weißt, wir haben große Probleme in der Firma, vor allem haben wir Produktionsschwierigkeiten bei unserem Hauptumsatzträger.
- Sie reagierte etwas genervt: Das ist die Aufgabe von Hinrich. Darum soll er sich kümmern. Du setzt falsche Prioritäten. Viel wichtiger ist die Weiterentwicklung des neuen Medikaments. Die Niereninsuffizienz breitet sich in der ganzen Welt rasend schnell aus. Wir benötigen das neue Medikament so schnell wie möglich. Das weißt du aus eigener bitterer Erfahrung.
- Wie weit seid ihr mit den klinischen Tests?
- Vielleicht sollten wir Julia selber fragen. Sie arbeitet zurzeit in unserem Münchner Institut.
- Dann lass uns zu ihr fahren.
- Sie wehrte energisch ab: Das, was wir mit ihr zu besprechen haben, ist privater Art und gehört nicht vor die Ohren ihrer Mitarbeiter. Ich habe sie hierher bestellt. Hoffentlich wird sie gleich hier sein.
- Das wäre gut. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.
- Lass uns schon mal ins Haus gehen, es fängt gleich zu regnen an. Ich habe frischen Tee in den Salon bestellt. Er wird schon bereit stehen.
Sie gingen in das schützende Haus als der Regen kam. Blitze und Donner folgten Schlag auf Schlag. Und doch war es befreiend, weil die drückende Schwüle vergangen war. Sie blickten durch die Fenster, als der Regen wie in Sturzbächen vom Himmel fiel. Kleine Bäche auf den Wiesen wurden zu reißenden Strömen. Sie ergossen sich in den See.
In diesem Augenblick öffnete Julia die Tür und betrat den Raum. Wolfgang erhob sich etwas schwerfällig und ging ihr mühsam mit unsicheren Schritten entgegen.
- Willkommen zu Hause, begrüßte er sie auf das Herzlichste. Gut, dass du noch vor dem Regen gekommen bist. Der Himmel dräut, man kann kaum etwas sehen.
- Setze dich zu uns, sagte Ingrid. Möchtest du einen Tee?
- Gern einen Eistee. Auf der Fahrt war es schwül und heiß.
Der Tee wurde gebracht.
- Du kommst gerade aus dem Institut? Wie weit seid Ihr mit den Tests?, erkundigte sich Wolfgang ohne Umschweife.
Es war klar, dass er von dem neuen Medikament sprach. Darum drehte sich in den letzten Jahren alles. Es absorbierte Julias Denken und ihre ganze Konzentration.
- Das Medikament ist noch nicht für die uneingeschränkte Anwendung am Menschen freigegeben, erklärte Ingrid, damit Julia ihren Tee in Ruhe genießen konnte. Wir haben den Durchbruch noch nicht erzielt, aber wir tun, was wir können.
- Julia ergänzte: Wir arbeiten mit Hochdruck an der Auswertung der klinischen Tests. Aber wir haben nicht genügend Testmaterial. Die Ergebnisse sind statistisch noch nicht signifikant. Wir haben viele Patienten, die wir nicht richtig mit dem Wirkstoff versorgen können. Wir benötigen dringend eine größere Menge Vexalin insbesondere für die Tests in unserem Forschungsinstitut in Nicaragua.
- Wolfgang erkundigte sich: Wozu genau braucht ihr eigentlich die großen Mengen nur in Nicaragua?
- Weil wir dort den größten Anteil er Tests durchführen. Dort grassiert die Krankheit ganz besonders. Wir kennen den Grund noch nicht genau. Wie arbeiten daran. Das Vexalin dient uns als Leitsubstanz zur Grundlage für die Tests auf schädigende Eigenschaften und auf unerwünschte Nebenwirkungen. Erst wenn die Tests befriedigende Ergebnisse gebracht haben, können wir die Leitsubstanz chemisch so optimieren, dass wir sie mit der Trägersubstanz koppeln können.
- Ingrid griff ein: Es geht darum festzustellen, wie die Substanz im Körper die bestmögliche Wirkung zeigt. Dazu muss sie an die richtige Stelle im Körper gelangen. Und sie muss ausreichende Zeit im Körper verbleiben, bevor sie abgebaut und ausgeschieden wird.
- Das ist mir schon klar, erwiderte er, aber warum werden die Tests in Nicaragua durchgeführt? Ihr könntet sie auch hier in deinem Münchner Institut durchführen. Dann entfallen die langen Transportwege durch verschiede Klimazonen, und wir könnten viel schneller zu Ergebnissen kommen.
- Julia fühlte sich angegriffen: Hier in Deutschland können wir die Tests nicht mit der gewünschten Schnelligkeit durchführen. Hier müssen wir den gesamten bürokratischen Genehmigungsweg durchlaufen. Das dauert noch viel länger. Nach jeder Testphase benötigen wir eine neue Genehmigung. Die bekommen wir erst, wenn die bisherigen Testergebnisse vorliegen und ausgewertet worden sind. Du weißt, wie langsam unsere Behörden arbeiten.
- Ich weiß. Braucht ihr denn in Nicaragua keine Genehmigungen?
- Doch, aber die bekommen wir ganz schnell so unter der Hand. Sie machte eine kleine Bewegung mit der hinter dem Rücken geöffneten Hand. Da fließt schon mal ein kleines Handgeld unter dem Tisch.
- Davon will ich nichts wissen. Das musst du allein verantworten. Hoffentlich geht dabei nichts schief. Wir würden auch hier in große Schwierigkeiten kommen, wenn wir bei einem unserer Tests einen Unfall zu verzeichnen hätten. Schließlich sind es unsere Produkte.
- Das ist mir vollkommen klar. Wir arbeiten sehr sorgfältig und beachten die festgelegten Standards. Wir arbeiten mit Hochdruck, das kannst du mir glauben, aber wir sind noch nicht über den Berg. Wir sind noch bei den Verträglichkeitstests.
- Ungeduldig fragte Ingrid: Und wann beginnen endlich die Wirksamkeitstests? Die Zeit drängt. Unsere Patienten können nicht länger warten. Und auch dein Vater nicht.
- Wir brauchen mehr Geld und größere Mengen von der Leitsubstanz, um die Tests auf breiter Front durchzuführen. Mit den wenigen Tests dauert es zu lange. Erst wenn die Wirksamkeit unseres neuen Medikaments nachgewiesen ist, dann sind die großen Pharma-Unternehmen bereit, mit uns einen Kooperationsvertrag abzuschließen. Erst dann verfügen wir über die Mittel, mit denen wir die weitere Entwicklung des Medikaments, die Zulassung und Vermarktung finanzieren können.
- Mit dem Abschluss von Kooperationsverträgen, da sei mal vorsichtig. Ich möchte die Ergebnisse deiner Arbeit gerne exklusiv im Hause behalten. Wir sollten uns vorher abstimmen. Jetzt werde ich mich selber um die Produktion der Leitsubstanz kümmern müssen.
- Darauf warte ich schon seit langem, aber es passiert nichts, sagte sie mit leicht gereiztem Unterton.
Sie nippte an ihrem Glas Tee, um sich etwas zu entspannen. Aber sie war voller Unruhe, denn ihr Vater machte keinen tatkräftigen Eindruck, um die Sache energisch voranzutreiben. Und Hinrich war nicht da. Offenbar wusste keiner, wo er sich befand.
- Wir haben in Nicaragua viele Patienten, die alle unter dieser lebensbedrohenden Krankheit leiden, sagte sie. Viele Menschen sterben schon mit jungen Jahren, weil sie nicht genügend Medikamente zur Behandlung der akuten Fälle bekommen.
- Das ist mir bekannt, wehrte der Senior mit schwacher Stimme ab.
Julia dachte sorgenvoll an die vielen leidenden Menschen.
- Ich muss so schnell wie möglich zurück, um mich den Testauswertungen zu widmen, sagte sie ziemlich schroff, weil ihr das Gespräch zunehmend auf die Nerven ging. Schließlich bemühte sie sich seit Jahren um die Zulassung, erhielt aber nicht die benötigte Unterstützung ihres Bruders. Und auch von ihrem Vater konnte sie in seinem jetzigen Zustand nichts erwarten. Er schien doch ziemlich kränklich zu sein. Er wirkte abwesend, in gewisser Weise unbeteiligt.
Julia wollte Abstand von der düsteren Umgebung gewinnen. Ihr wurde mit aller Deutlichkeit